80-90 % der radikalisierten Jugendlichen stammen aus muslimischen Familien
Kinder und Jugendliche, die sich radikalisieren, leben nicht im luftleeren Raum. Sie sind Teil dieser Gesellschaft, haben eine Familie und besuchen Schule, Ausbildungsort, Arbeitsstelle oder Uni. Sie haben also – zumindest vor der Radikalisierung – mehrheitlich ein relevantes soziales Umfeld, das dieser Ideologie nicht anhängt. Wird diese Radikalisierung festgestellt, so wird häufig und pauschal die Schuld auf die Gesellschaft geschoben. Das ist eine ebenso einfache wie unzureichende Zuweisung. Ja, es gibt Jugendliche, die nicht teilhaben können. Das ist manchmal, jedoch nicht immer ein gesellschaftliches Problem.
Weniger betrachtet wird oft die Rolle des engsten Umfeldes. Hilfseinrichtungen müssen – da sie die Eltern oftmals als Ansprechende bzw. Hilfesuchende erleben – da vorsichtig sein mit Schuldzuweisungen. Im akuten Fall hilft die Vergangenheitsbetrachtung auch kaum weiter. Man darf die Eltern, die Angehörigen nicht als Mitstreiter verlieren, zumal sie – wenn sie Hilfe suchen – selber geschockt sind durch die Entwicklung.
In der Strukturbetrachtung ist jedoch auch dieses engste Umfeld zu analysieren. In einem Papier, dass das ZDF veröffentlichte vor einiger Zeit und das aus Sicherheitskreisen stammt, wird der Radikalisierungsprozeß bei immerhin 10 % der Ausgereisten durch einen Familienangehörigen gestartet:
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Mit etwa 30 % spielt der Freundeskreis eine erhebliche Rolle: Die falschen Freunde können ins sprichwörtliche Unglück führen.
Um so bemerkenswerter ist der folgende aktuelle Appell eines muslimischen Aktivisten:
„Der Brite Manzoor Moghal ist Vorsitzender des Muslimischen Forums in England – und hat sich nun mit einem eindringlichen Appell an seine Glaubensbrüder gewandt: Wenn junge Muslime in den Krieg ziehen, müsse ihr Umfeld sein Verhalten und seine Verantwortlichkeit hinterfragen, statt stets anderen die Schuld zu geben.“
„Die Abgrenzung vieler Glaubensgemeinden von der britischen Gesellschaft habe verhindert, dass sie sich erfolgreich integrieren konnten. Diese Abschottung sei ein Nährboden für extremistischen Islamismus: Westliche Demokratien würden fälschlicherweise als etwas Gefährliches und unislamisches dargestellt.“
Auch bei den anderen 90 %, bei denen die Familie nicht direkt beteiligt war, muss man jedoch fragen, wie sich der junge Mensch angeblich so weit entfernen konnte trotz oftmals engsten Zusammenlebens. Vielleicht hat es teilweise damit zu tun, dass gerade bei engstem Zusammenleben die Herstellung einer inneren Privatsphäre wichtig ist? Und doch: Wie können es Eltern vorgeblich nicht bemerken, dass Sohn oder Tochter abdriften? Wie können es professionell agierende Sozialpädagogen missdeuten, wenn sich ein Schützling nicht nur dem Glauben, sondern einer radikalen Ideologie zuwendet? Wie können es diese Menschen nicht bemerken, dass der Jugendliche die „falschen Freunde“ hat oder sich nachmittags immer zur gleichen Zeit in der Fußgängerzone herumtreibt?
Zum einen ist sicher zu fragen, wie weit der Kontakt da schon vorher verloren wurde. Wurde dem Kind nicht nur das Leben geschenkt, sondern auch die Liebe zum Leben mitgegeben, die Freundlichkeit gegenüber allen Menschen, das Bewußtsein dafür, Gleicher unter Gleichen zu sein? Oder wurde dem Kind nur Gehorsam abverlangt, Freundlichkeit weniger denn Abgrenzung gelehrt und eine unrealistische Selbstsicht, wonach man ohne eigenes Zutun anderen überlegen sei? Gehorsam, Abgrenzung und narzisstische Überhöhung sind durch die salafistische Ideologie relativ leicht abzudecken. Man kommt dem Gelernten gewissermaßen entgegen. Es gibt erschreckend viele Kinder, die schon so strukturiert sind: Gehorsam zur eigenen Gruppe, Abgenzung und Abwertung anderer Menschen und ein starkes Überlegenheitsgefühl. Zum anderen ist fraglich, wie eine bemerkte Hinwendung zum Glauben nicht hinterfragt werden kann.
Ein Jugendlicher, zu dem kein gefestigtes elterliches Verhältnis bestand, keine wirkliche Teilnahme der Eltern an dem Leben des Jugendlichen, ist stärker gefährdet. Das erklärt auch zwanglos, dass viele Jugendliche aus Familien kommen, in denen die Mutter alleine erzog. Der Vater war physisch oder emotional oder als Vorbild nicht erreichbar. Die alleinerziehende Mutter mag mit Arbeit und reiner Familienorganisation ausgelastet sein. Ein Vater, der nichts mit den Jugendlichen unternimmt oder eine Rolle vorlebt, die nicht mehr zeitgemäß ist, mag wenig helfen. Der Jugendliche ist also alleine, obwohl er in der Familie lebt. Die innere Isolation mag schon vor der Radikalisierung bestanden haben, manchmal auch Teil einer pubertären Abgrenzung sein. Durch die falschen Freunde oder die falsche Freizeitgestaltung erhält diese Entwicklung Schub. Denn die Freunde, zunächst diffus vielleicht im Umfeld der islamistischen Straßenaktionen, isolieren weiter. Die Familie wird abgewertet, der Jugendliche als neuer Rechtgeleiteter bestärkt und aufgewertet. Die islamistische Bruderschaft zieht in ihren sozialen Bann.
Man muss also auch die Rolle der Familien hinterfragen – weniger der Schuldzuweisung wegen, sondern um die Hilfsangebote paßgenau anbieten zu können. Bevor der Weg in die islamistische Parallelwelt begonnen wird.