Tarik (alle Erkennungsmerkmale verändert) weiß nicht mehr weiter. Wir treffen uns in einer hessischen Stadt auf einen Kaffee. Er ist völlig verzweifelt, weil sein Sohn Mustafa immer weiter in die salafistische Szene abrutscht.
Tarik ist Atheist, er lebt seit längerem von Mustafas Mutter getrennt. Beide stammen aus einem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Land. Er ist Akademiker, lebt seit vielen Jahren in Deutschland und versucht zu verstehen, was gerade passiert. Tarik sieht seine drei Kinder nicht mehr regelmäßig seit der Scheidung vor Jahren, versucht aber, sie zu besuchen und sie besuchen ihn. Bis vor einem Jahr war sein jüngerer Sohn Mustafa ein relativ normaler Junge, Ausbildung, begleitend Schule. Die Mutter trug kein Kopftuch. Der ältere Junge geht auch noch zur Schule, ebenso die Tochter. Die Mutter dachte, es sei gut für die Kinder, wenn sie sie in die Moschee schicken würde, zur Charakterbildung. Der Vater wird darüber zunächst nicht informiert. Was Tariks Frau nicht wusste: Die Moschee ist Insidern seit Jahren als Problem-Moschee bekannt. Immer wieder werden vom Vereins-Vorstand auch Hassprediger eingeladen als gern gesehene Gäste.
Das wird jedoch nicht bekannt gemacht, das steht nirgendwo in dieser Klarheit, das müsste man sich einzeln aus Zeitungen und dem Internet zusammensuchen. Tariks Frau hat eine einfache Bildung. Sie käme nicht auf die Idee, beim Verfassungsschutz anzurufen, bevor sie ihre Kinder dem Einfluß fremder Menschen aussetzt. Sie vertraut darauf, dass alle nicht verbotenen Moschee-Vereine der Ort sind, wo sich gute Muslime treffen und wo den Kindern Anstand und Sitte beigebracht werden, besonders den wilden Jungs.
Tariks Frau ist also ganz arglos. Doch der jüngere Sohn verändert sich. Bald weist er die Mutter darauf hin, dass sie sich bedecken soll als anständige Frau. Nach nur drei Monaten wird er schlechter in der Schule, verliert das Interesse am Unterricht. Gespräche zwischen Vater und Sohn verlaufen zunehmend feindselig, wenn das Gespräch auf den Glauben kommt. Dazu kommt es häufiger, denn der Junge interessiert sich eigentlich nur dafür noch brennend. Er fängt an, gelegentlich traditionelle Kleidung zu tragen. Die Lehrer in der Schule und die Behörden werden auf Mustafa aufmerksam. Doch die Schulleitung möchte das nicht thematisieren. Man befürchtet einen Image-Verlust. Gelegentliche Missionierungsversuche Mustafas duldet man.
Der Vater versucht, Hilfe zu organisieren, da er ahnt, das Problem werde er nicht selber lösen können. Doch Mustafa lehnt die professionelle Hilfe ab. Er sieht sich nicht als hilfsbedürftig. Da die Angebote auf freiwilliger Basis sind, ist der Vater machtlos. Bei Streitgesprächen wird Mustafa auch dem Vater gegenüber mittlerweile handgreiflich. Er muss ihn aus der Wohnung weisen. Mustafa geht wieder zu seiner Mutter, die resigniert hat vor dem aggressiven Sohn und die Lage auch nicht vollständig einschätzen kann.
Eine Behörde schlägt vor, Mustafa einen Aufenthalt im Herkunftsland der Eltern zu bezahlen, damit der Junge „seine Kultur“ kennenlerne und auch nicht mehr der Kontakt zur salafistischen Szene in der nahe gelegenen Stadt aufrecht erhalten werden kann. Das wiederum findet der Vater schrecklich, denn es ist bekannt, dass die Wege zum IS dort noch kürzer sind als aus der hessischen Stadt. Auch hatte er gehofft, das der Junge – bei allem Traditions- und Herkunftsbewußtsein – die europäische als seine Heimatkultur annehmen würde wie er selbst. Auf Nachfrage will die Behörde sich nicht dazu äußern, ob sie solche Angebote auch anderen Jugendlichen machen.
Mehr als ihm raten, dem Sohn kein Taschengeld mehr zu geben und zu versuchen, im Gespräch mit ihm zu bleiben, kann ich nicht für ihn tun. Der falsche erste Schritt, nämlich den Jungen in eine Problem-Moschee zu schicken, wäre vielleicht vermeidbar gewesen, wenn es diese Moschee nicht gegeben hätte oder die Mutter in ihrer Sprache Hinweise erhalten hätte. Hinweise, die so klar und deutlich formuliert sind, dass sie sie auch verstanden hätte. Tarik möchte nicht an die Öffentlichkeit. Er hat Angst um sein Kind, Angst, dass das weiter entfremdet, die Situation noch weniger beherrschbar macht, als sie es schon ist..
Tarik möchte seinen Sohn nicht verloren geben. Er möchte um ihn kämpfen. Aber er weiß nicht mehr wie. Er fühlt sich sehr einsam.