Triage

Mancher wird den Begriff Triage nicht kennen. Er bedeutet Auswahl, Sichtung und wird meist in der Medizin verwandt:

https://de.wikipedia.org/wiki/Triage

Eine Triage ist immer dann notwendig, wenn die Menge hilfsbedürftiger Menschen die Hilfs-Ressourcen übersteigt. Einfachstes Beispiel: Ein brennendes Haus, drinnen eine schwer verletzte Person und eine unverletzte, aber bewußtlose Person. Man kann in diesem Gedankenexperiment nur EINE Person retten oder ginge selbst unter. Die Alternative, hineinzugehen, beiden die Hand zu halten beim Sterben und auch selbst zu sterben, ist keine. Man muss also wählen. Das sind harte Entscheidungen, Entscheidungen, wie wir sie glücklicherweise meist nicht mehr gewohnt sind zu treffen im Alltag. Nicht jeder war einmal bei einer Massenkatastrophe dabei und kennt Verfahren und den Zweifel, der das immer begleitet. Nicht jeder war in anderen Ländern, wo das noch leider zum Alltag gehört. So hart und existenziell sind die gegenwärtigen Entscheidungen noch nicht. Zumindest nicht bei unseren Entscheidern, nicht an unserer direkten Grenze.

Auch wenn es teilweise noch nicht eingestanden ist, befinden wir uns derzeit in einer Lage, die Entscheidungen erfordert, die man nicht treffen will, die man nicht treffen wollen kann. Infantiles Wunschdenken, ändert aber die Situation nicht.

Wenn man gegenwärtig sagt, man müsse die Grenzen – vorübergehend – nicht durchlässig machen*, wird das vielleicht für herzlos gehalten. Das ist es nicht. Wenn wir die Kontrolle verlieren, die Möglichkeiten so weit temporär ausgeschöpft sind, dass man einer großen Zahl Menschen nur Bedingungen bieten kann, die vielleicht auf Monate kaum besser sind als in den Ländern, die sie durchreisten, und eine vage Hoffnung, dann muss man sich der normativen Kraft des Faktischen stellen. Wohlgemerkt – Deutschland ist nicht das erste Land, dass viele Flüchtlinge erreichten, in dem das Leben nicht mehr direkt gefährdet ist. Wohlgemerkt – so einige kommen, obwohl sie wissen, dass sie wieder gehen müssen. Nicht umsonst machen sich in der gegenwärtigen teilweise unkontrollierten Lage ganze Trupps aus den Camps auf, bevor sie registriert sind. Man muss berechtigt fragen, wovon sie zu leben gedenken.

Wenn wir keine echte Zuflucht mehr bieten können wie hier aus Gießen beschrieben:

dann müssen wir das bekennen. Das erfordert die Ehrlichkeit den Flüchtlingen gegenüber, das erfordert die Ehrlichkeit den Bürgern gegenüber.

Der Hessenschaubericht vom letzten Donnerstag zeigt dies noch einmal auf:

 

Wenn in den Flüchtlingslagern das Recht des Stärkeren gilt, können wir Frauen und Kinder nicht schützen. Wir können nicht alle gleichermaßen schützen, die Täter wollen wir – zumindest ist das anzunehmen – auch gar nicht schützen. Man kann  jedoch aktuell berechtigte Zweifel haben, ob  die Täter auch nur mit Strafe zu rechnen hätten: Die Frauen wissen oft gar nicht, an wen sie sich wenden müssten; auch ist die Scham oft groß. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben die Täter unbehelligt, können, wenn wir nicht eingreifen, so fortfahren. Das können wir jedoch nur, wenn wir die Kontrolle einigermaßen innehaben. Wer, nur weil die harte Hand einer Ordnungsmacht in den Lagern fehlt, meint, Frauen seien Freiwild, der muss sich erst einmal zivilisieren. Zu groß ist die Gefahr, dass er dieses primitive Verhalten beibehält immer wenn er sich als Stärkerer wähnt. Wir können jedoch nicht zehntausende junge Männer nacherziehen in grundlegenden Fragen wie „nein, Frauen darf man nicht einfach körperlich überwältigen“.

Das sind schwierige Fragen, denn zwischen Pauschalurteil und Persilschein gibt es viele ungeklärte Dinge und viele Graustufen. Sicher ist jedoch, dass man sich vor Entscheidungen gegenwärtig nicht drücken kann, wie es wochenlang versucht wurde. Vor allem darf man sich nicht weiter vor Ehrlichkeit und klarem Blick auf die Probleme drücken.

Projektionen von freundlichen, aber weltfremden Personen helfen nicht. Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge sind alles eins, weil sie nicht unterscheiden wollen. Die können sich nämlich gar nicht vorstellen, wie verlockend für einen Menschen, der wenig schlechtes Essen hat, selbst die Vorstellung eines bundesdeutschen Gefängnisses ist mit regelmäßigem Essen. Die können sich auch nicht vorstellen, wie verlockend die Aussicht auf Zugang zu den bekannt freizügigeren Europäerinnen auf einen jungen Mann wirken kann, der in seiner Heimat keinerlei Aussicht auf regelmäßige sexuelle Bedürfnisbefriedigung hat. Sie denken einfach, dass niemand ohne Not seine Heimat verlassen würde, verkennen aber, dass hier arm zu sein immer noch Krankenversorgung und relativ freien Zugang zu Bildung und Frauen bedeutet. Das sind in anderen Ländern Mittelschicht-Standards. Dafür riskiert man was, gegebenenfalls wird man sogar von der Familie geschickt, um sie dann nachzuholen. Die pauschale Idealisierung hilft nicht weiter, weil sie verhindert, nicht nur die Chancen zu sehen, sondern auch die Gefahren. Für beide Seiten. Beides gehört aber zu einer informierten Entscheidung, zur verantwortbaren Handlung möglichst vielen gegenüber.

All diese Probleme können nicht wir alleine lösen. Wir haben Verantwortung für alle Menschen, die hier sind und noch ein Stück darüber hinaus, ja. Wir müssen aber eine Art Triage machen, um möglichst vielen zu helfen, die dann später sich wieder selbst und anderen helfen können. Dadurch, weil wir sie bislang nicht machten, sind wir nun in der Situation, erst mal nicht mehr individuell entscheiden zu können, sondern kollektiv entscheiden zu müssen. Das trifft nun alle Flüchtlinge gleichermaßen. Innerhalb eines Tages von „alle können“ zu „keiner darf“. Diejenigen, die bekannt wieder gehen müssen, brauchen Ressourcen auf, die diejenigen brauchen können, die bleiben könnten. Diese Entscheidung von den Menschen selber zu fordern, also vorher zu akzeptieren, dass sie nicht bleiben können, ist etwas viel verlangt, zumal wenn man Deutschland noch ein Stück über der Realität als das gelobte Land darstellt. Menschen haben – in Grenzen – das Recht, eigennützig zu handeln. Das darf man keinem aberkennen, dem Flüchtling nicht, dem Bürger nicht. Die politische Entscheidung versucht den Interessenabgleich. Entscheidet man zu lange nicht, kommt so etwas heraus.

Manchmal ist Entscheidungen aufschieben das Herzloseste von allem. Man steht vorm Haus und schaut zu.

 

* Bei diesem Beitrag hat die Realität die Planung eingeholt: Es wurden vorhin Grenzkontrollen wiedereingeführt.