Geht es um radikale Strömungen im Islam werden gerne Schlagworte benutzt, da die meisten Menschen sich mit dem Thema nur oberflächlich beschäftigen. Schlagworte sollen nicht nur neugierig machen auf den nachfolgenden Text oder den Beitrag, sondern sie sollen auch bei der ersten Einordnung helfen. Zwei der aktuell aufkommenden Einordnungen, die zunehmend häufiger verwendet werden, sind, Jihadismus und Salafismus seien ein Jugendphänomen und auch eine „Popkultur“. Beide Schlagworte sind wenig hilfreich im Verständnis des Phänomens, da sie die Strömung und ihre Anhänger in gewisser Weise verharmlosen, verniedlichen und das Ganze auch ohne Zutun als temporäres Phänomen missdeuten lassen.
In vielen Großstädten sind sie immer wieder präsent: die Koranverteiler. Viele werden sie schon gesehen haben und mancher sich gefragt, was die jungen Männer umtreibt, sich einer so totalitären Bewegung anzuschließen. Schon die Frauen sieht man nicht, die der Bewegung anhängen. Sticht einem das Phänomen so ins Auge, kann man leicht auf die Idee kommen, dies sei eine Art Mode, die gegenwärtig nur um sich greift. Das täuscht jedoch. Die jungen Männer, die in den Fußgängerzonen stehen und von denen dann nicht wenige den Weg in den Jihad finden, sind nur der sichtbare Teil des Phänomens, die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Schon frühere Vernetzungen und Aktivitäten, z.B. von Millatu Ibrahim in Mönchengladbach, waren öffentlichkeitswirksam, wenn auch nicht derart durchschlagend und beharrlich vollzogen.LIES! wirbt, ja, mag auch ein Katalysator sein, weil die Schwelle so niedrig ist, hinein zu geraten in den Strudel des Fanatismus, aber die Konzentration auf diesen Aspekt ist unzureichend. Der Tunnelblick lässt die Vernetzung und das Ausmaß dunkel.
Die sichtbare Aktion, der öffentliche Auftritt ist also nur Teil des Phänomens. Schaut man sich die Daten schon der deutschen Rückkehrer an, so ergibt sich ein gemischtes Bild:
VfS Analyse Ausgereiste 20140930
Es sind zwar mehrheitlich jüngere Personen, die ausreisten und teilweise wieder einreisten. Jüngere Personen sind z.B. vielen Straftaten ebenfalls überrepräsentiert. Ein in jüngeren Jahren erhöhter Antrieb und der Umstand, dass der eigene Platz im Leben noch nicht dauerhaft gefunden wurde, mag bei den Ausreisen hineinspielen. Bei den Frauen spielt eine Rolle, dass sie nicht alleine verreisen dürfen. Wurden sie im Gebiet des IS verheiratet mit einem dortigen Mann, so ist die Rückkehr besonders schwer und unwahrscheinlich. Auch das ergibt eine b Beobachtungslücke. Über die generellen Haltungen zum Salafismus und Jihadismus bei Älteren gibt dies jedoch keine Auskunft. Man beobachtet deren Aktivitäten nur weniger stark bzw. sie haben Möglichkeiten gefunden, weniger im Visier der Öffentlichkeit zu stehen. Man tut also gut daran, die Beschränkungen der Beobachtungen und Erhebungen zu erkennen.
Es gibt eine Reihe indirekter Hinweise.
Einen Eindruck mag geben, dass jüngere Kinder von 8-10, die noch weniger unter dem Einfluss von peer groups stehen und bei denen die Prägungen durch das Elternhaus im Vordergrund stehen, nicht selten bei Konfrontation bereits Haltungen spiegeln, die für eine Radikalisierung prädisponieren. Von der Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft und der Abwertung von „Ungläubigen“ ist nur ein kleiner Schritt, wenn gleichzeitig der Korantext als heiliges, wörtliches Vermächtnis verstanden und die Befolgung der wörtlich belegten Aufträge an die Menschen gelehrt wird. Ein „Kinderkoran“ hilft wenig, wenn dann später zum Originaltext gewechselt wird und der Text an sich nicht profanisiert und kritisch hinterfragt werden kann.
Einen weiteren Hinweis mag geben, dass viele der Moscheevereine, die mit Problem-Moscheen auffallen, bereits seit vielen Jahren existieren und oftmals eine wechselhafte Geschichte aufweisen. Dies ist vielfach bereits durch die im Internet verfügbaren Dokumente und Hinweise belegbar. Aus diesen Problem-Moscheen gehen seit Jahren Reisende zum IS oder anderen jihadistischen Gruppierungen hervor. Das ist weder ein neues Phänomen noch wird die zugrunde liegende Ideologie nur von jungen Menschen vertreten. Hassan Dabbagh ist nicht mehr so ganz jung, Abou Nagie ist über 50 und viele andere der zentralen Figuren, die die Jungen anleiten, anstiften oder auch „inspirieren“, sind keine Personen mehr, die noch mit Pubertätspickeln zu kämpfen hätten. Sie haben sich seit vielen Jahren in ihrer Gegengesellschaft eingerichtet und bauen sie weiter aus. Auf einen, der ausreist, kommen 5, die in der Fußgängerzone stehen und 100, die direkt sympathisieren. Das fehlt jegliches jugendliches Augenzwinkern, das ist bitterernst. So ernst wie der Faschismus war und ist und jeglicher Totalitarismus. Wer da Assoziationen mit jugendlichen Flausen weckt, der verkennt Macht, Verführungskraft und Nachhaltigkeit des Totalitarismus. Wenn es schlecht läuft, bleibt uns das bis auf weiteres, man rechne da mit Jahrzehnten, erhalten.
Die „König-Fahd-Akademie“, eine höchst problematische Einrichtung, gibt es zum Beispiel schon seit 1995. Frankfurter Problem-Einrichtungen sind auch schon weit über 10 Jahre alt. Das kam nicht plötzlich und schnell verschwinden wird es auch nicht, wenn LIES! einmal verboten oder nicht mehr sichtbar sein sollte.
Es gibt Inhalte, die prädisponieren und man muss auch ganz klar sagen, dass schon der konservative Islam etwa 90 % (M. Abou Taam) der Inhalte abdeckt, die auch vom IS vertreten werden. Diese restlichen 10 % Inhalte sind z.B. durch das Internet leicht verfügbar. Die 90 % sind sehr, sehr „pop“ im Sinne von populär, das ist die Basis, muss man leider konstatieren. Viel populärer also als gemeinhin bekannt und uns auch lieb sein kann. Die restlichen 10 %, die dann in die Ausreise münden, sind dem Klientel zwar bekannt, führen aber noch nicht zwingend in die Ausreise. Da kommen noch weitere Faktoren hinzu. Aktuell sind so 800 Fälle bekannt, in denen Ausreisen nachweisbar sind, es gibt eine relativ hohe Dunkelziffer. „Pop“ ist diese letzte Konsequenz also glücklicherweise noch nicht.
Dass dieses Wachstum gebremst wird, wird viel gesamtgesellschaftliche Anstrengung erfordern. Diese werden wir jedoch nicht aufbringen, wenn wir das Problem verniedlichen. Darüber müssen wir also reden. So bitterernst, wie es die Feinde dieser Gesellschaft auch meinen.