Ummahgenese II

Hinsichtlich der Integration gibt es verschiedene Vorstellungen und Modelle. Im Allgemeinen wird darunter aber verstanden, dass sich mit der Zeit immer weniger sozioökonomische Unterschiede bei den betrachteten Gruppen feststellen lassen und – bei Migranten – sich auch die individuellen Eigenarten der aufnehmenden Gruppe anpassen und manchmal auch umgekehrt. Gruppe und Neumitglieder verändern sich in dem Maße, wie die Mengenverhältnisse und damit oft auch die Machtverhältnisse sind.

Das ist bei sehr vielen Bevölkerungsgruppen so und auch in vielen Gesellschaften nachvollziehbar. Nach ein paar Generationen sind oftmals die Unterschiede völlig verwischt: Die Integration hat zu einer neuen Gruppe geführt, in der die Herkunft nicht mehr die Rolle spielt und alle sozioökonomischen Schichten gleichermaßen durchsetzt sind.

Etwas anders liegen die Dinge, wenn in den Gruppen Integrationshindernisse bestehen, etwa Heiratsschranken. Dann bleiben die Unterschiede lange bzw. länger bestehen und der Übergang ist auf einzelne Individuen beschränkt.

Hindernisse können nun auf einer oder beiden Seiten bestehen. Manchmal lösen sich Individuen auch wieder aus den Zielgruppen und wechseln in die Ursprungsgruppe zurück, es findet also eine persönliche Desintegration aus der Mehrheits- in die Minderheitsgruppe statt.

Je ausgeprägter die Unterschiede sind, desto schwerer wird die Überwindung und damit die Integration. Steht im Hintergrund ein nicht nur sozioökonomischer, sondern auch weltanschaulicher Unterschied, wird es doppelt schwer.

Gegenwärtig ist zu beobachten, dass manche Maßnahme, die als Integrationshandlung betrachtet wird, faktisch nach meiner Einschätzung genau das Gegenteil bewirken wird.

Die gesonderten Angebote, die von den konservativen muslimischen Verbänden eingefordert werden, werden dazu führen, dass auch diejenigen, denen Religion eigentlich zweitrangig und eher herzlich egal ist, nun ständig damit konfrontiert sind. Es wird eine soziale Kontrolle aufgebaut, sogar schon dann, wenn das Angebot nicht im Kulturverein offeriert wird (dort aber erst recht). Da dies in Bereichen, die multikulturell angelegt sind, aber vom miteinander wechselwirkenden Kreis her überschaubar, wie der Schule, Jugendarbeit oder in Gefängnissen, besonders intensiv erfolgt, wird dies dort besonders wirksam werden. Dort wird sie auch zuerst sichtbar werden: „Es gibt doch jetzt halal-Essen, warum isst Du Schwein, du bist doch auch Muslim…“, „deine Tochter läuft ohne Kopftuch herum, was sollen die anderen denken…“, „du bist nicht beim Freitagsgebet dabei gewesen, bist dir wohl zu fein dafür, wirst schon sehen, was du davon hast…“, „du hältst das Fasten nicht ein, was soll das, du bist doch auch Muslim…“, „warum gehst du nicht in den Religionsunterricht…“. Es entsteht eine ständige Rechtfertigungshaltung desjenigen, der Muslim ist, aber keine Lust auf die Einhaltung aller Regeln hat. Der vielleicht mehr Neigung zu anderen Gewohnheiten hatte, aber die Herkunftsweltanschauung oft genug nur noch auf dem Papier teilt. Seine persönliche Lebensführung geht niemanden etwas an, aber diejenigen, die sich an Regeln halten, werden es oft nicht auf der eigenen Zuordnung beruhen lassen. Auch der andere muss sich bekennen, wenn es denn diese Wahlmöglichkeit gibt. Die Person muss sich entscheiden, wird zur Entscheidung getrieben. So funktionieren Gruppen und so funktioniert Gruppendruck. Und so wird aus dem bosnischen Kind und dem türkischstämmigen Kind und dem pakistanischstämmigen Kind, die vielleicht sonst in der Chemie-Ag wären als vorrangiges gemeinsames Merkmal, eine Gruppe junger Muslime, die der Verzicht auf bestimmte Dinge eint und das nicht nur in der Freizeit. Deswegen ist es ja eigentlich so wichtig, dass es Räume gibt, in der nicht nur die Herkunft, sondern auch die Weltanschauung keine Rolle spielt: Damit jedes Kind die Chance hat, sich als Individuum zu erfahren in einem geschützten Raum, auch und gerade, wenn es aus einer eher kollektivistischen Kultur stammt.

So schafft die Gesellschaft, indem sie den Wünschen konservativer Verbände nachgibt, erst den Raum, in dem die Ummah (in ihrer unguten Form) wächst und ein Binnendruck entsteht. Anstatt das vielleicht vorhandene Selbstbild „vorrangig Muslim“ aufzulösen in „vorrangig Mensch“, indem alle Kinder gleich behandelt werden, wird durch die Summe der separaten Angebote und durch die Formung der gesellschaftlichen Wahrnehmung das Fremdbild erst befestigt oder gar geschaffen. Die Lehrerin, die vorher nur Schüler verschiedenen Geschlechts sah, vielleicht auch die ethnische Zuordnung wahrnahm, sortiert nun plötzlich auch nach Religionszugehörigkeit, auch wenn sie das bewußt gar nicht wollte. Das schlägt beim Selbstbild dann in dieselbe Kerbe, die bei manchen durch eine Diskriminierungserfahrung geschlagen ist. Auch persönlich positive Integration ist mit solcher Exklusion nicht voran zu bringen, sondern wirft zurück. Wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, Separation wirke Segregation entgegen, muss erst mal hergeleitet werden. Das wird nur so hingenommen, weil Wunscherfüllung mittlerweile bei manchen höher im Kurs steht als Weitsicht oder auch nur ein wenig Rückgrat. Nein sagen ist erst mal unschön, aber langfristig notwendig und es kostet wahrscheinlich weniger Wähler als man so denkt.

Wenn als Ziel nicht die Integration, sondern die Prävention von Radikalisierung anvisiert ist, so ist auch dieses zumindest fragwürdig. Es fehlt nämlich bei all den Sondermaßnahmen an einer Erfolgskontrolle. Man vermutet nur, dass sie wirken könnten. Oder glaubt den Eigenbekundungen der konservativen muslimischen Verbände, die zwar nur Personen im niedrigen Prozentbereich vertreten, aber das Gespräch mit der Politik sehr offensiv führen. Einen Erfolg überhaupt zu definieren, schon das mag schwer fallen. Rückzug aus dem salafistischen Milieu? In welchem Zeitraum? Weniger radikale Schüler/Studenten/Häftlinge als in der Vergleichsgruppe? Die persönliche Entscheidung ist so individuell, die Standortfaktoren und auch Zufälle so unterschiedlich, dass schon die Formulierung einer Zielerfüllung schwer fällt und all das schlecht vergleichbar macht.

Natürlich wollen die konservativen Verbände und auch einzelne Akteure ihre Interessen voran treiben. Die des Gemeinwesens müssen das nicht sein und sind sie auch oft nicht. Gegen win-win wäre ja nichts einzuwenden, das ist aber nicht sicher. Sicher ist jedoch: Die öffentlichen Töpfe und die Köpfe der Menschen sind Begehrlichkeiten ausgesetzt.

Die konservativen Verbände sollten nicht die Marschrichtung vorgeben dürfen, der sich dann auch die weniger strengen Glaubensgeschwister beugen müssen durch schlichte Gruppendynamik. Denn dann hätten wir unseren Teil – nolens volens – mit geleistet. Ob aus gutem Willen oder aus Unkenntnis bleibt in der Zukunft unerheblich. Dann hätten wir aus falsch verstandener Toleranz der Segregation Vorschub geleistet. Das aber schadet uns allen.

Die richtigen Fragen – und die falschen

Ein Wort zu den kursierenden Zahlen hinsichtlich des Verhältnisses von Bürgern muslimischen Glaubens zur Demokratie

Islamismus als der politische Islam steht nicht monolithisch da: Es gibt verschiedene Strömungen. Unterschiedlich agierend, unterschiedlich gefährlich und mal mehr, mal weniger jenseitig. Man muss also nicht nur fragen, über welchen Islam man spricht, sondern auch über welchen Islamismus.

Islamismus ist nach Definition die Richtung, die einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch (auch für Nichtmuslime) hat, eine Richtung, die die FDGO in Frage stellt. All das also, was über die private Frömmigkeit, den privaten Rahmen hinausgeht UND die FDGO in Frage stellt, in naher Zukunft oder in fernerer.

Dazu bzw. zum Einstieg:

https://vunv1863.wordpress.com/2015/11/09/islamismus-substrat-und-frucht/

Sogenannte legalistische Gruppierungen machen das innerhalb des Rechtssystems. Die anderen versuchen das auch mit Methoden und Strukturbildungen, die an der Grenze zur Legalität oder darüber sind.

 

Mahnwache 150523 1

 

 

 

Aber was ist Islamismus in einzelnen Haltungen? Man kann diese einzelnen Haltungen abfragen und kann das in Untersuchungen strukturiert erfassen. Die Art, wie man die Frage stellt, wie man sie formuliert, hat jedoch einen erheblichen Einfluss auf das Ergebnis. Interessant ist die in dem Zusammenhang Muslime und Demokratie gern zitierte Bertelsmann-Erhebung aus dem Januar dieses Jahres (deren Rohdaten aber aus 13 und 14 stammen):

„Der Aussage, dass die Demokratie eine gute Regierungsform ist, stimmen 90 % der hochreligiösen sunnitischen Muslime zu. Dies entspricht auch dem Zustimmungsgrad der mittel- und weniger religiösen Sunniten. Die Zustimmung zu dem Satz, man sollte allen Religionen gegenüber offen sein, stimmen 93 % der hochreligiösen sunnitischen Muslime. Mit 85 % sind nahezu ebenso viele der Meinung, jede Religion habe einen wahren Kern. Die zunehmende religiöse Vielfalt in unserer Gesellschaft empfinden 68 % der hochreligiösen, 71 % der mittel- und 75 % der wenig religiösen Sunniten in Deutschland als Bereicherung. 90 % der Muslime haben regelmäßig Freizeitkontakte zu Menschen anderer Religionszugehörigkeit. Rund 60 % verfügen über mehr Freizeitkontakte außerhalb als innerhalb ihrer Religion. Nur 8 % der befragten Muslime bewegen sich in einem rein muslimischen Freizeitnetzwerk. Dabei besteht kein Zusammenhang zwischen der Heterogenität des Freizeitnetzwerks und der Intensität der Religionsausübung (Zentralitätsindex).“

Ja, es wird nach dem Verhältnis zur Demokratie gefragt. Aber doch (vorbehaltlich einer Betrachtung des Volltextes) ohne die entscheidenden Fragen zu stellen. Zumindest geht das aus der „Sonderauswertung Islam 2015: Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick“ des Religionsmonitors so hervor:

Klicke, um auf Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf zuzugreifen

Auch hier, in einer öffentlichen Präsentation der Ergebnisse, wird nur darauf abgestellt, ob man Demokratie gut fände:

Klicke, um auf Vortrag_Yasemin_El_Menouar.pdf zuzugreifen

Zitat eines hochrangigen Funktionärs eines islamistischen Vereins, der nach innen wie eine Sekte agiert, nach außen aber als ernst genommener Partner der Politik gilt:

„Unter dem Islam sind verschiedene Staatsformen denkbar.“

Das ist exemplarisch dafür, wie es von vielen gesehen wird.

Die Kernfrage ist also nicht, ob man Demokratie gut findet oder nicht, also die eigene Wertung dieser Staatsform, sondern wie Demokratie in der Relation zur eigenen Religiosität steht.

In der Studie von 2007 des BMI geht man dem aber nach und auch in der Erhebung von Koopmans, 2013, die Rohdaten sind entsprechend älter. Beide sind offen einsehbar im Internet. Zu finden sind sie auch in obigem link zum Einstieg oder in der Literatursammlung.

Antisemitische Haltungen: 45 % (SCIICS : D, FR, GB, NL, S, A; 2013)
Antiwestliche Haltung: 45 % (SCIICS)
Verschwörungstheorie zu 9/11: ~ 50 % (PEW: D, FR, GB)

Religiosität eher oder sehr wichtig: ~ 82 % (BMI, 2007)

Koran wahres Wort Gottes: ~ 80 % (BMI)

„Ungläubige von Gott verflucht“: ~ 15 % (BMI)

Islam ist die einzig wahre Religion: ~ 50% (BMI)

Und die Kernfrage:

Religion steht über demokratischen Gesetzen: ~ 47 % (BMI)

Die Bedrohung des Islam durch die westliche Welt rechtfertigt, dass Muslime sich mit Gewalt verteidigen. Stimme eher zu oder stimme völlig zu: 20.4% bzw. 17.9% (BMI)

Gewalt ist gerechtfertigt, wenn es um die Verbreitung und Durchsetzung des Islam geht. Stimme eher zu oder stimme völlig zu: 3.3% bzw. 2.2% (BMI)

Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, körperliche Gewalt gegen Ungläubige anzuwenden. Stimme eher zu oder stimme völlig zu: 4.2% bzw. 3.4% (BMI)

Die Verschwörungstheorien und der Antisemitismus sind Bestandteil eines von manchen gepflegten Opferdiskurses (ungeachtet dessen, dass die meisten Personen, die dem IS zum Opfer fallen, Muslime sind; aber auch da geht die VT, dass der IS nicht eigenverantwortlich agiere). Auch die Pariser Attentate werden von relevanten Anteilen nach meiner Einschätzung so eingeordnet.

Mal etwas überspitzt:
So wie die Fragen in der Sonderauswertung dargestellt sind, schwimmen selbst LIES-Aktivisten mit im Bertelsmann-Strom:

„Ist die Demokratie eine gute Regierungsform?“
Fingierter LIES-Aktivist: Ja (denn hier können wir uns auf Art. 4 GG berufen und agieren)

Haben sie regelmäßig Freizeitkontakte zu Menschen anderer Religionszugehörigkeit?
Fingierter LIES-Aktivist: Ja

Diese Art Fragen sind also zur Unterscheidung wenig geeignet. Man muss auch darauf hinweisen, dass einige Auswertungen auf 200 Befragten basieren, die einen dt-türk. Doppelpass haben und sunnitischen Glaubens sind. Da fragt man sich hinsichtlich der Repräsentativität schon das eine oder andere. Auch die Unterteilung dieser Gruppe noch einmal macht dann die Gruppen so klein, dass da statistisch sehr viel passieren kann. Da die Bertelsmann-Zahlen ziemlich anders sind als viele andere, bräuchte man da mehr Forschung, mehr Befragte und repräsentative Auswahl um da sicherer behaupten zu können.

Es gibt mittlerweile – das muss man leider so sagen – eine Gruppe als Wissenschaftler angestellter Personen, die manches Mal mehr dem Marketing verpflichtet scheinen denn dem Erkenntnisgewinn. Vielleicht merken sie auch nur gar nicht mehr selber, dass sie ihrerseits Stereotype produzieren, nutzen und damit perpetuieren. Sie produzieren das politisch nicht verunsichernde. Dabei sind Soziologen üblicherweise sehr fit in Statistik, das ist ein wichtiges Handwerkszeug. Es wird auch nicht sauber zwischen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und der Ablehnung einer Religion oder gar einer Ideologie unterschieden. An der Freundlichkeit von vielen Personen zweifelt doch niemand und auch nicht daran, dass viele Menschen sich näher kommen, alleine DURCH den Dialog. Man überschätzt dieses „Instrument“ allerdings gewaltig, wenn man meint, durch freundliches Parlieren mit denjenigen, die klare Überzeugungen haben und die auch nicht zu revidieren bereit sind, voran kommt. Man kann sie nicht einmal in der Menge ausmachen, wenn man mit allen gleichermaßen nur grillt oder die Gemeinsamkeiten sucht. Das ist ehrenwert, aber nicht zielführend, wenn genau das Trennende problematisch ist. Auf die Spitze getrieben: So mancher Terrorist war guter Nachbar. Vorher. Es hilft wenig, mit ihm über die Hausordnung geredet zu haben und da überein gekommen zu sein, einmal wöchentlich die Treppe zu putzen sei Konsens.

Nicht das Verbindende muss also diskutiert werden, sondern das Problematische (umgekehrt gibt es dabei nebenbei wenig Vorbehalte: man spricht an, was einen stört). Nicht das persönliche, die menschliche Ebene ist bei so einigen hinterfragenswert, sondern die politische Haltung. So manche Nettigkeit mag sich auch in Luft auflösen, wenn kritische Punkte angesprochen werden. Das mag sein. Aber das muss die Person, das muss unsere Gesellschaft aushalten. Man klärt das nicht durch Schweigen. Für eine sachliche Debatte braucht man aber Zahlen, die ordentlich erhoben wurden mit den Fragen, die relevant sind.

So mancher Entscheider mag das, was für ihn produziert wurde, für ein Abbild der Realität halten. Das mag es sein – aber auch nur ein Teil davon und nicht der relevanteste. An sich zieht die Entscheiderebene ja wissenschaftlichen Sachverstand eben bei, um neutral beraten zu werden, eine fundierte Einschätzung und Bewertung von Spezialisten zu erhalten. An dieser Neutralität ist bei manchem zu zweifeln.

Es geht kein Weg daran vorbei: Wir müssen diese Fragen richtig stellen. Man kann nicht die falschen Fragen stellen und dann die erhaltenen Antworten so behandeln und verkaufen, als seien sie die Antworten auf die richtigen Fragen.

Eine Neuauflage der BMI-Erhebung scheint dringend geboten.