Einige Überlegungen zur Einordnung
Saudi-Arabien hat gestern 47 Todesurteile vollstreckt, eine derartige Gruppenhinrichtung gab es nur wenige Male in der Geschichte des Landes. Die Beschuldigung lautete i.d.R. „Terrorismus und Anstiftung zur Gewalt.“ Neben vier Schiiten wurden 43 andere Personen getötet, Sunniten:
Saudi-Arabien war bei der Absichtserklärung zur Vollstreckung an den Schiiten u.a. vom Iran gewarnt worden, das Vorhaben umzusetzen. Nach den Hinrichtungen sind verschiedene Reaktionen erfolgt. Neben den Stellungnahmen von UN, US, EU sind weitere Besorgnisse laut geworden. Darüber hinaus gab es bereits erste öffentliche Proteste gegen die Hinrichtung nicht nur in Saudi-Arabien selber, sondern auch anderen Ländern. Im Iran wurde die saudische Botschaft gestürmt. Es besteht durchaus die Gefahr, dass eine echte Auseinandersetzung um die Vormacht im Raum ihren Anfang nahm. Ajatollah Ali Chamenei spricht aktuell von „göttlicher Rache“:
http://www.tagesschau.de/ausland/saudiarabien-hinrichtungen-107.html
Vor einem Monat allerdings schon hatten auch Al Qaida-Gruppen im Jemen gewarnt:
„Al-Qaeda’s affiliate in Yemen has threatened the Saudi government over its plan to carry out a mass execution of prisoners, including al-Qaeda members, the militant group announced in a statement posted on social media.“
Die Massenhinrichtung ist also ungewöhnlich. Der Zeitpunkt dieser saudischen Maßnahme (etliche Personen sind seit längerem verurteilt) ist daher auch interessant und das Ausmaß bemerkenswert.
Guido Steinberg meinte in der SZ:
„Für Guido Steinberg, Golf-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, kommt die Hinrichtung Al-Nimrs überraschend, weil mit dem Geistlichen jemand umgebracht worden sei, von dem keine Gewalt ausging: „Da geht die saudi-arabische Regierung doch ein gutes Stück weiter, als in den letzten Jahren.“ Für die Schiiten im ölreichen Osten, von denen sich bislang keine militante Gruppe gegen Riad wende, sei das Urteil „eine Provokation“.
Nach Ansicht Steinbergs ist die Massenhinrichtung vor allem eine Reaktion König Salmans auf die Bedrohung durch die Terrormiliz IS. Diese ist auf irakischem Gebiet bis an die Staatsgrenze der Monarchie herangerückt. Auch in Saudi-Arabien, das sich international gegen die Extremisten engagiert, sind IS-Anhänger aktiv. Die Terrormiliz hatte 2015 die Verantwortung für mehrere blutige Anschläge auf schiitische Moscheen übernommen.“
Vielleicht ist die Hinrichtung Al-Nimrs und dreier weiterer Schiiten jedoch nur „Beiwerk“ (sofern man das schaurig so nennen kann).
Es könnte auch eine Reaktion auf die Zusammenschlüsse der letzten Tage sein. Etliche Gruppierungen hatten Kampf-Allianzen gebildet: Al Qaida-nahe Gruppen und IS-Unterstützer gegen den gemeinsamen Feind von außen, die Ungläubigen. Gleichzeitig ist für den IS Saudi-Arabien nicht fern. In Saudi-Arabien sind relevante Netzwerke von Al Qaida aktiv. Ob z.B der Bin-Laden-Clan politisch aktiv ist, ist nicht bekannt. Eine Vermischung schlichter Machtinteressen mit politischem Vorgehen ist bei Clanstrukturen allerdings nicht allzu selten. Wenn eine Allianz von außen herannaht, könnten Clans, die groß und finanzstark sind, ihre Stunde gekommen sehen, einige Claims mehr abzustecken, sofern wesentliche Mitglieder die Al Qaida bevorzugen oder protegierten oder dies einfach als politische Chance betrachteten. Verschiedene Familien könnten also differierende Interessen haben. Das Herrscherhaus könnte meinen, ein gemeinsamer Feind im Inneren sollte da entweder einen oder dem Herrscherhaus ermöglichen, weitere unliebsame Personen der „Kollaboration“ zu zeihen. Hier eine vollständige Liste der getöteten Personen:
Quelle: http://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2016/01/02/Saudi-interior-ministry.html
Daraus:
„But most of the 47 executed in the kingdom’s biggest mass execution for decades were Sunnis convicted of al Qaeda attacks in Saudi Arabia a decade ago. Four, including Nimr, were Shi’ites accused of shooting policemen.“
Der Zeitpunkt hätte dann – die Gruppen trauern um unterschiedliche Opfer – den Sinn aus Sicht des Herrscherhauses gehabt, diese Allianz wieder etwas aufzulösen (greift man evtl. Saudi-Arabien an oder nicht?) und auch ein deutliches Zeichen an die Al Qaida im Land zu senden. Der Zeitpunkt wäre dann nicht Zufall, sondern diejenigen, die in Gefangenschaft waren, dienten als Faustpfand, das man nun einlöste.
Die jihadistschen Anführer, die z.B. Al Qaida oder dem IS zuzuordnen sind, haben bislang unterschiedlich reagiert. Unter den Getöteten waren verschiedene Personen, die als Brüder im Geiste oder Unterstützer gesehen werden. Wie sich die einzelnen Gruppen nun positionieren, dürfte interessant sein, da die jeweils zentrierten Opfer einen Rückschluß auf die Ausrichtung erlauben.
Auf einer fb-Saite von Millatu Ibrahim-Nachfolgern werden diese Opfer beklagt:
Sheikh Fars Al Schueyl, Scheikh abdulaziz Raschid adtuil3i, Hamad abdullah ibrahim al hemidi
Ein Al Qaida-nahes Portal:
Shaykh Faris Zahrani, Hamd al Humaydi und Abdulaziz al Tuvayili
Garniert wird die Stellungnahme mit der farbigen Bekundung:
„Wir versprechen Allah: Es ist für uns verboten zu leben solange wir die Anführer der saudischen Familie nicht geköpft haben!“
http://ummahislam.com/exekutionen-in-saudi-arabien-und-aqaps-erklaerung-diesbezueglich
Man wird weitere Reaktionen abwarten müssen, kann sich aber bei solchen Einlassungen sicher sein, dass Al Qaida getroffen wurde. Dass Saudi-Arabien – das ist Spekulation – in Kauf nimmt, erhebliche außenpolitische Spannungen mit dem Iran zu bewirken, könnte ein Indiz sein, wie die Lage eingeschätzt wird. und könnte auf relevante innere Loyalitätskonflikte hindeuten. Ob manches, was man aktuell eher nur ahnen kann, eintritt, werden die nächsten Tage zeigen. Man sollte jedoch immer daran denken, dass die Binnenlogik nicht unbedingt nach außen durchscheint und das saudische Regime eine sehr andersartige Struktur hinsichtlich der Legitimation hat. Manche Handlungsansätze könnten mit europäischem Blick schwer verständlich oder nicht so einfach herleitbar sein.