Fortsetzung zu:
https://vunv1863.wordpress.com/2016/05/09/quo-vadis-profiling-i/
Will man nun nicht nur bei den tatsächlichen Tätern oder Tatverdächtigen ansetzen, also in der Vorbeugung konkreter Taten oder in der Deradikalisierung, sondern geht in die Prävention, so zeigen sich auch dort verschiedene Linien auf. Schaut man sich die Verlautbarungen derer an, die in der Prävention, mal kürzer, mal länger, tätig sind, an, so gibt es auch dort Rückmeldungen über Beobachtungen in den Beratungsstellen.
Das Feedback bezieht sich dabei auf den Personenkreis, der Beratungsangebote nutzt. In letzter Zeit häufig genannte Merkmale von Gefährdeten sind u.a. diesen Verlautbarungen nach:
– wenig religiös vor der Radikalisierung
– eher säkulare Familien
– viele Kleinkriminelle
– Diskriminierungserfahrungen
– Lebenskrise
Was meist nicht berücksichtigt wird, ist, dass die Beratungsangebote Beratungs-angebote sind und der Identitätsaspekt der Religion, zumindest auf der spirituellen Ebene möglichst wenig berührt wird*. Alle Deradikalisierung, alle Prävention beruht auf Freiwilligkeit. Sie stützt sich auf der Mitarbeit mindestens einer Person, dem Gefährdeten selber. Meist rufen jedoch Angehörige oder Lehrer an, auf deren Mitarbeit es auch sehr wesentlich ankommt. Wird nicht kooperiert, kann nur repressiv vorgegangen werden. Von den Eltern, von den Behörden. Das jedoch ist erst dann möglich, wenn es diesen Akteuren zur Kenntnis gelangt. Bei den Behörden ist zudem eine erhebliche Schwelle gesetzt, bevor ein Agieren oder gar repressive Maßnahmen möglich sind. So kann z.B. ein Wuppertaler Jungprediger, 16, recht unbehelligt agieren, weil die Erziehungsberechtigten dies billigen.
Zur bias, dem systematischen Beobachtungsfehler in der Prävention, ist zunächst zu sagen, dass fundamentalistische Personen die verfügbaren Beratungsangebote in noch geringerem Ausmaß nutzen als säkulare. Auch werden Eltern eher die Angebote nutzen, deren Nachwuchs tatsächlich noch in jugendlichem Alter ist. Ist er älter, wird auch die Möglichkeit der Einflußnahme als gering erachtet (was sie da auch tatsächlich ist. Bei Erwachsenen kontrollieren Eltern den Umgang meist nicht mehr und auch bei Mädchen stärker als bei Jungen, weswegen auch der aktuell gemeldete Anstieg der Nachfragen hins. weiblicher Gefährdeter nicht verwundert. Mädchen werden in ihrem Umgang stärker beaufsichtigt, und wenn es da etwas beachtliches gibt, wird es wahrscheinlich eher gemeldet). Bei vorher wenig religiösen Personen fällt die Hinwendung zum Glauben stärker auf als wenn ein eifriger Moschee-Gänger seine Nummer eins wechselt. Das ist auch deshalb so, weil Informationen über die einzelne Einrichtung oftmals nicht frei verfügbar sind. Eltern und Lehrer wissen oft schlicht nicht, dass die besuchte Moschee eine Problem-Moschee ist, deren Besuch den Zugang zu radikalen Kreisen erleichtert oder gar erst möglich macht. Die Mutter beispielsweise der Täterin aus Hannover (Polizisten-Attentat) schickte ihre Kinder jahrelang in solche Einrichtungen, das Mädchen wurde von Pierre Vogel als Vorzeige-Kind missbraucht. Immerhin wunderte sich die Mutter dann, als die Kinder über die Türkei ausreisen wollten.
In einer eher säkularen Familie fällt die Hinwendung zum Glauben auch deshalb stärker auf, weil fundamentalistisches Ausleben der Religion stärker mit dem Familienalltag kollidiert: Das Gebet in der Nacht fällt nicht auf, wenn alle in der Familie so verfahren oder wenn alle bemüht sind, fundamentalistische Regeln im Alltag haarscharf zu befolgen. Es entfallen dort die in säkularen Familien häufigen Debatten darüber, was noch halal, also erlaubt, oder schon verboten ist, also haram.
Bei dem Personenkreis, der sich an Beratungsstellen wendet, hat man also mitnichten einen repräsentativen Querschnitt der Gefährdeten, sondern es erfolgt eine systematische Selektion auf die genannten Merkmale hin. Vorwiegend die Bezugspersonen derer, die diese Merkmale aufweisen, treten also in Kontakt und damit werden vornehmlich diese Personen begutachtet und betreut.
Ist man sich dieses systematischen Beobachtungsfehlers nicht bewußt, werden dann in der Generalisierung falsche Schlußfolgerungen gezogen: Religiösere Familien schützten vor Radikalisierung, mehr Beschäftigung mit Religion auch. Diese Generalisierung ist mindestens unbelegt bzw. wäre an wirklich repräsentativen Daten oder wenigstens an Datenmaterial, das die gleiche bias nicht aufweist, zu überprüfen. Da jedoch ist die Datenlage dünn, denn die bereits im Teil eins als Literatur angegebene GTAZ-Auswertung hat wieder einen anderen Beobachtungsfehler. Dort besteht er darin, dass nur Akten ausgewertet werden können, die vorliegen. Eine Akte hat jedoch nur, wer vorher schon auffiel, entweder durch starke öffentliche Betätigung, entsprechende Kontaktpersonen oder eben Kriminalität anderer Art. Liegen keine so gewonnenen Erkenntnisse vor, wird bei Betätigung dann oftmals von „Blitzradikalisierung“ gesprochen oder von Einzeltätern. Bei weiteren Ermittlungen kommt dann oftmals ans Licht, dass die Betätigungen entweder nur nicht erfasst wurden oder sie schlicht bei einer anderen Behörde zwar vorlagen, aber nicht weitergereicht und geteilt wurden (Datenschutz, getrennte Kommunikationswege). Auch hier mündet eine Generalisierung vorläufiger Erkenntnisse oder die Nichtbeachtung der bias in falsche Schlußfolgerungen und Empfehlungen.
Beratungssituationen können auf verschiedene Weise zustande kommen. Bei Jüngeren können die Eltern bewirken, dass diese Beratungsangebote wahrgenommen werden oder es wird von behördlicher Seite die Teilnahme an einem Programm angeraten. Dass der Eigenantrieb, auszusteigen, bei Islamisten oftmals gering ist, zeigt der Fall der 2014 eingestellten Hotline „HATIF“:
https://de.wikipedia.org/wiki/HATIF
HATIF gab es von 2010 bis 2014. Seit 2010 ist die Zahl der Salafisten, auch der prinzipiell gewaltbereiten, explodiert. Trotzdem wurde HATIF wegen Nichtnutzung eingestellt (als Ersatz gibt es nun etwas bei BaMF, von dieser Beratungsstelle liegen mir noch keine Nachfragezahlen vor).
Bei Jüngeren wird häufiger die Lage eintreten, dass sie nicht selbstbestimmt an einem Training teilnehmen. Wird nicht selbstbestimmt teilgenommen, ist dies eine eher lästige Pflicht und wird weniger als Chance begriffen. Diese Pflicht wird man am ehesten dadurch vordergründig erfüllen, indem man zum einen dem Sozialpädagogen erzählt, was dieser dem eigenen Empfinden nach hören will, zum anderen wird man für sich Entschuldigungen suchen. Das ist kaum anders als bei Delinquenz. Viele Einlassungen haben mit Einsicht weniger zu tun, sondern damit, dass Empathie geweckt und Fürsprechen bewirkt werden soll beim Berater. Solche Effekte sind aus der Aussagepsychologie bekannt bei Gutachten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Beschuldigten oder Zeugen. Ist man sich dieser Effekte nicht bewußt, kommt man leichter und ohne Prüfung des Wahrheitsgehalts zu dem Schluß, Diskriminierungserfahrungen oder Lebenskrisen seien unabdingbar für eine Radikalisierung. Für eine solche doppelte Buchführung – das eine wird im Training erzählt, im realen Leben wird jedoch recht ungeniert weiter gemacht mit den Betätigungen – gibt es Beispiele. Täter z.B. des Attentats auf die Sikh-Einrichtung in Essen nahmen an Programmen teil. Weder hinderte sie dies merklich, noch schlugen die beratenden Sozialpädagogen Alarm**, dass der Schützling entgleite. Das aufgebaute Vertrauensverhältnis zum Schützling war schlicht eine Imagination, ist faktisch lediglich der Beleg, dass man „es“ versucht habe. In anderen Fällen mag man erfolgreicher agieren.
Das alles taugt jedoch ebenfalls nicht zur Generalisierung. Geht man die GTAZ-Zahlen durch, so finden wenig Hinweise auf Lebenskrisen, die anders beschaffen wären als in anderen Zusammenhängen. Dass es Schwankungen im Gelingen des eigenen Lebensweges gibt oder auch schon bei der Suche auf dem geeigneten Lebensweg, ist eine ganz übliche Lebens- und Alltagserfahrung. Jedem Menschen widerfahren in seinem Lebensweg Dinge, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen, das geht von der nicht erwiderten Liebe bis hin zu Problemen in der Ausbildung. Fast jeder Mensch erlebt in seiner Schullaufbahn z.B. auch Ausgrenzungen. Als Sondermerkmal, das eine Radikalisierung begünstige, taugt dies also nicht singulär, sondern allenfalls als Motivation für sich konkretisierende Ausreisewünsche oder stärkere Fluchten aus den Anforderungen des täglichen Lebens, als Motivation auch, um als zu überflutend empfundene Wahlmöglichkeiten, die immer auch Eigenverantwortung erfordert, zu reduzieren.
Sieht man alle diese Punkte in der Gesamtschau, so ist zu konstatieren, dass vor einer möglichen Generalisierung mehr Daten erforderlich sind und ein bewußter Umgang mit den eigenen Erkenntnisgrenzen in dem Bereich, in dem man selber Daten und Beobachtungen erhebt. Einigen derjenigen, die in dem Bereich tätig sind, ist anzuraten, sich diese Grenzen der eigenen Beobachtung, den eigenen Beobachterhorizont klarer zu machen. Da die Datenlage (zu) dünn ist, greift man von Entscheiderseite ihre Sichten begierig auf, um Weichen hinsichtlich des Gegenwirkens zu stellen. Werden nun aufgrund nicht statthafter Generalisierungen auch dort falsche Schlußfolgerungen gezogen, ist das kontraproduktiv.
Unzureichendes profiling führt bei der Tatwahrscheinlichkeitsabschätzung dazu, dass man auf falsche Gruppen schaut. In der Prävention führt es zu falschen Maßnahmen. Bestenfalls wird damit nur Geld für Aktionismus ausgegeben; schlimmstenfalls vergrößert man das Problem dadurch, dass man die falschen Personen falsch anspricht oder gar ein Umfeld als Präventionsmaßnahme mit öffentlichem Geld fördert, das in Wirklichkeit Radikalisierung wahrscheinlicher macht. Es gibt also gute Gründe, hinsichtlich der Fallanalyse hinsichtlich des Einzelfalles, aber auch in der gemeinsamen Betrachtung vorliegender Fälle größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen.
* am ehesten entspricht noch der „Empowerment-Ansatz“ der einer stärkeren Gewichtung anderer Identitätsaspekte
** zumindest ist dies von den Profis – entgegen der Bemühungen mancher Eltern – nicht reklamiert worden.
Literatur: s. Teil I
Eine kleine Übersicht:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Verzerrung#Liste_kognitiver_Verzerrungen