Reaktionen einiger Akteure in der Kinderkopftuchdebatte
In Österreich nimmt die Vorstellung, dass junge Kinder in Schule und Kita keine religiöse Kopfbedeckung tragen dürfen, Form an. Mithilfe einer gesetzlichen Regelung soll für Kinder durchgesetzt werden, dass Kita und Schule frei bleiben von derlei religiöser Markierung:
https://www.tagesschau.de/ausland/kopftuch-oesterreich-101.html
Auch in Deutschland wurde das danach diskutiert, da in NRW einige Überlegungen dazu angestellt wurden. Die Debatte hatten einige Extremisten genutzt, sich als Vorkämpfer für die „Rechte“ von Musliminnen zu stilisieren und eine Kampagne initiiert:
https://vunv1863.wordpress.com/2018/04/15/kampagne-fuer-das-kinderkopftuch-islamistische-akteure/
Zur grundsätzlichen Frage, ob sich schon Kinder nach muslimisch-religiösen Vorstellungen bedecken müssten, meint Prof. Dr. Bülent Ucar aus Osnabrück, es gebe dafür keine islamische Quelle, das sei „Konsens in allen islamischen Denkschulen“.
[Ucars Erinnerungen an seine Zeit als Lehrer sind in dem Artikel wenig hilfreich – das liegt lange zurück. Die Verhältnisse haben sich deutlich verändert.*}
Übergangen wird in dem Interview jedoch, dass die Frage, bis wann ein Mädchen noch ein Kind ist, unterschiedlich beurteilt wird und die Sichten durchaus von der hiesigen Rechtslage und auch der (mehrheits-)gesellschaftlichen Vorstellung abweichen können. Zu Beginn des Jahres war z.B. von der Diyanet, der türkischen Religionsbehörde, überlegt worden, ob man das Heiratsalter für Mädchen nicht auf 9 Jahre absenken solle:
Über die DITIB ist die Anbindung an die Diyanet strukturell vorgegeben.
Die Behörde dementierte dann zwar nachfolgend. Staatlicherseits liegt das Mindestalter bei 18 Jahren in der Türkei. Doch können Ehen islamisch gültig auch vor dem Imam geschlossen werden und entziehen sich damit der staatlichen Regelung. Erdogan versucht, genau diese Eheform wieder voranzubringen,
„Ob ihr es wollt oder nicht, das Gesetz wird kommen.“ Mit diesen Worten hatte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Ankara seine Entschlossenheit, islamische Ehen einzuführen unterstrichen. Bisher durften nur Standesbeamte rechtsgültige Trauungen vollziehen. Religiöse Eheschließungen waren zwar zusätzlich möglich, aber nicht allein gültig. Künftig sollen sich Paare vor einem Mufti, einem islamischen Rechtsgelehrten, das Ja-Wort geben können. Er ersetzt den Standesbeamten.“
Auch werden derzeit in der Türkei Initiativen gesehen, die das Kopftuch bei Kindern über das Verschenken von Schals fördern wollen.
Gestern hatte sich der Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet zu Wort gemeldet. Gedacht war da wohl, dass hier wirkende Imame in diesem Kontext Verbündete sein könnten:
„Die Moscheegemeinden könnten hier helfen, indem jeder Imam im Freitagsgebet den Familien erklärt, dass das Kopftuchtragen von Mädchen mit Religion nichts zu tun hat. […] „Kindern vor der Religionsreife und vor der Geschlechtsreife das Kopftuch anzuziehen, halte ich für nicht geboten.“
Diese Vorstellung ist als Wunsch und Ansinnen nachvollziehbar, offenbart jedoch mit welcher Naivität die religiösen Funktionäre eingeordnet werden. Die Imame, die von der Diyanet entsandt sind, agieren weisungsgebunden. Ist ein Dissens da, also ein Widerspruch zwischen den diffusen Wünschen hiesiger Politiker und den Vorgaben ihres Arbeitgebers, werden sie sich in der Regel an die Vorgaben der Diyanet halten. Die Diyanet stellt jedoch nicht nur für die DITIB die Imame. Auch die ATIB, eine Organisation aus dem Graue Wölfe-Spektrum, bezieht ihre Imame nach Aussage von Mehmet Celebi von der Diyanet. Von der IGMG wurde vor einiger Zeit anläßlich einer Kleinen Anfrage bekannt, dass auch sie einen Teil ihrer Vorbeter von der Behörde bezieht. Und so sind die Positionierungen klar:
„Der einflussreiche Dachverband Ditib, der vom türkischen Staat finanziert wird, verweist ebenfalls auf das Gesetz und das allgemeine Recht der Eltern auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder. Und Ditib klagt an: „Sondergesetze für Muslime zu fordern, ist ein immer wiederkehrendes politisches Verhaltensmuster, um Gesellschaft und Medien von dringlichen Problemen abzulenken“, sagt die Pressesprecherin Ayse Aydın. […] Und Bekir Altaş, Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş, hält es für das „normalste der Welt“, dass Eltern ihre Kinder durch ein Kopftuch an die Religion heranführen würden. Den Vorwurf von Staatsministerin Güler, das Kopftuch würde junge Mädchen sexualisieren, erkennt er nicht an. Er sagt: „Wenn sich das Mädchen später gegen das Kopftuch entscheidet, was nicht selten vorkommt, ist es sein Wille, und wenn es sich dafür entscheidet, ebenso.“ Warum es aber sinnvoll sein soll, schon Mädchen vor der Pubertät mit einem Kopftuch an die Religion heranzuführen, erklären beide Verbände auch auf Nachfrage nicht.“
Der jüngste Vorstoß von Laschet, dass die Imame aktiv werden könnten, findet daher erwartungsgemäß** wohl wenig Gegenliebe. So meinte Ali Kizilkaya, ein langjähriger IGMG-Funktionär und ehemaliger Vorsitzender des Islamrats, „Erlässt jetzt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet schon „Fatwas“, die die Imame bitteschön umsetzten sollen. Unglaublich!“
Auch der Kommentarbereich ist lesenswert.
Der saarländische Akteur Manfred Petry***, dessen Gemeinde (Islamische Gemeinde Saarland, IGS) Mitglied im Zentralrat der Muslime ist, meint gar in gewohnt ausdrucksstarker Diktion:
„Der Geisteszustand von deutschen Politikern wird immer bedenklicher. Wie kommen diese „Islamexperten“ auf die Idee, dass Mädchen erst ab 14 Jahren ein Kopftuch tragen müssen? Kann diesen Intelligenzbestien mal jemand erklären, dass manche Mädchen schon mit elf, zwölf oder dreizehn voll entwickelt sind und bereits dann ein Kopftuch tragen müssen, sofern sie ihren Glauben leben!
Dieser islamophobe Populismus ist widerwärtig!!!“
Die von Hizb ut Tahrir-nahen Kreisen initiierte Internet-Kampagne wird also inhaltlich von anderen Kreisen mitgetragen. Mal unter Bezugnahme auf das Elternrecht, mal unter Bemühung biologistischer Argumentationen, die Biologie über rechtsstaatliche Schutzmechanismen setzen wollen.
Das aktuell vielfach von muslimischen Akteuren geteilte Zitat von Malu Dreyer hingegen wird breit missverstanden:
Es wird so verstanden, als sei die Religionsausübung völlig frei und als trete Dreyer für eine schrankenlose Ausübung aller Rituale und Traditionen ein, insbesondere bei Muslimen****.
Dass das in der Weise, wie es in der Verkürzung verstanden wird, Unsinn ist, wäre Frau Dreyer als Juristin klar. Art. 4 (2) ist zwar bedingungslos, aber nicht schrankenlos. Zudem stehen unter dem Schutz des Artikels 4 GG nur Inhalte, die auch zum Wesenskern der Religion gehören. Stimmte das so breit, wie es derzeit (miß-)verstanden wird, müsste Dreyer auch für die weibliche Genitalverstümmelung aus rituellen Gründen sein, was ich mir nicht vorstellen kann. Und so wird es dann, wenn man nicht die verkürzte Version, die „heute“ auswählte, nachschaut, auch wesentlich differenzierter:
„Jeder dürfe hierzulande seinen Glauben leben, sagte sie am Samstag. „Wer immer meint, die Religionsausübung etwa von Muslimen einschränken zu wollen, weil die angeblich nicht dazugehören oder fremd sind, der hat unser Grundgesetz nicht verstanden.“
Das Grundgesetz garantiere auch, dass sich Christen in Deutschland wie auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften für das Gemeinwohl engagieren könnten, erklärte die stellvertretende SPD-Parteivorsitzende.“
https://de.qantara.de/content/dreyer-grundgesetz-schuetzt-auch-religionsausuebung-von-muslimen
Das bezog sich also mitnichten auf einen allgemeinen Freifahrtschein oder gar das Kinderkopftuch, sondern auf soziales Engagement und die allgemeine Tätigkeit, die religiös konnotiert ist. Die Betätigung der Muslime wurde korrekt mit der Betätigung anderer religiöser Akteure verglichen. Es gilt gleiches Recht für alle. So weit, so banal und doch anscheinend so schwer zu verstehen. Muslime haben die gleichen Rechte, unterliegen aber auch den Schranken der Ausübung wie alle anderen auch.
Das ist die Crux bei manchem islamistischen Akteur. Rechte haben wie alle anderen, wird (berechtigt) eingefordert. Dass man aber auch den gleichen Begrenzungen unterliegen könnte und dass eine Einschränkung, die vornehmlich Muslime trifft, mitnichten eine selektive Einschränkung sein muss, ist schwerer zu vermitteln. Zu sehr mag sich mancher als Opfer staatlicher Willkür inszenieren, Mangels Beschäftigung mit dem Thema ist zum Beispiel meist nicht präsent, dass es auch staatliche Überlegungen gab seinerzeit, als Sekten Kinder und Jugendliche anwarben. Oder dass es auch bei anderen Einschränkungen gab im Elternrecht, das zugunsten der Bildungschancen untergeordnet wurde (s. „Zwölf Stämme“). Das ist zwar in der aktuellen Gemengelage schwieriger aus vielen Gründen, aber es gibt Haltungen und Handlungen in der Vergangeheit bei anderen Strömungen, die in manchen Aspekten vergleichbar sind.
Die Durchsetzung also, dass alle Kinder in diesem Land die gleichen Rechte haben, worunter auch eine jenseits des Religionsunterrichts religiös neutrale Schule zählen sollte, ist wichtig. Es gibt das Elternrecht, ja*****. Aber das endet, wo die Rechte des Kindes beginnen bzw. dem entgegen stehen, bei einer Grundrechtekollision.
Die Mädchen gehören also zu ihren Eltern. Sie gehören aber auch zu „uns“, gehören der Gruppe Menschen an, die hier leben und die gleiche Rechte genießen. Sie sind auch „unsere Mädchen“ in diesem Sinne, der ein guter ist. Vor allem aber gehören sie sich selbst. Das sicher zu stellen, eine eigene Entscheidung zu ermöglichen, ist eine Aufgabe, die nicht unterschätzt werden kann:
„Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 6
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_6.html
Dies gilt für alle gleichermaßen.
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Siehe dazu auch:
„Mädchen ohne Kopftuch werden gemobbt“:
http://www.faz.net/video/integrationsexpertin-spricht-zum-thema-kopftuch-15588412.html?premium
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Sofern man die rechtlichen Strukturen und die Gemengelage durchdringt. Da kann man bei manchem politischen Akteur begründet Zweifel haben.
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Zu Herrn Petry:
https://vunv1863.wordpress.com/2017/07/28/janus-an-der-saar/
Die Gemeinde wird weiterhin im „Interreligiösen Dialog“ Saarbrücken geführt:
Petry, der früher aktives SPD-Mitglied war und als Sozialarbeiter wirkte, hat seit seiner Konversion wohl um das Jahr 2012 eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Die Diktion ist eine ganz übliche bei ihm seit Jahren. Abwertungen von „Ungläubigen“ sind häufig, anlasslose Lobpreisungen des Glaubens und der Glaubenden auch. Personen, die auch nur dezent von seinen radikalen Sichten abweichen, wird häufig von ihm attestiert, sie seien „geistig extrem einfach strukturiert“. Saarbrücker Akteure sollten durchaus wahrnehmen, wie er sie sieht.
Was sich in den Haltungen verändert hat, wird an obigem Beispiel deutlich: Was muss an den Haltungen eines ehemaligen Sozialarbeiters geschehen sein, damit er in einer Elfjährigen religiös legitimiert schon eine „reife“ Frau erblickt?
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Gemeint war wohl, dass Muslime die gleichen Rechte genießen seitens des Staates wie alle anderen auch. Es fehlt aber der Hinweis, das wäre nötig gewesen, dass alle Religionsausübung ihre Grenzen hat. Die anderer Grundrechte oder die, die vom Strafgesetzbuch erfasst werden. Gerade in einer so aufgeheizten Debatte ist es wichtig, so präzise wie möglich zu sein in seinen öffentlichen Äußerungen. Insbesondere Akteuren mit juristischer Ausbildung sollte dies klar sein.
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Man lese dazu auch:
„Denn die kopftuchlosen Kopftuchverteidiger vergessen, verleugnen und verdrängen zu gerne, dass das Tuch vielleicht aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft ein individueller Ausdruck der religiösen Identität sein mag, für die Communitys aber genau die Rolle spielt, die aufgeklärte Kopftuchkritiker sehen: ein Instrument sozialer Kontrolle. […] Der Einfluss der deutschen Islamverbände auf diese Debatte sollte beschränkt sein: Denn sie repräsentieren nur eine muslimische Stimme – eine konservative. Die Islamverbände treten nicht für einen in Deutschland vielfältig gelebten Islam ein – denn sonst würden sie auch die Interessen säkularer, gläubiger Muslime vertreten, die ob aus weltlichen oder theologischen Gründen dem Kopftuch kritisch gegenüberstehen.“
https://www.zeit.de/gesellschaft/2018-04/kopftuchverbot-kinder-sexualisierung-selbstbestimmungsrecht