Über einen neuen Narrativ unter Jugendlichen
Im April landete die seit 2003 verbotene Hizb ut Tahrir (HuT) einen unerwarteten, aber breit übernommenen Medien-Coup: Man hatte über mehrere Portale, auf denen Anhänger ihre Haltungen verbreiten, eine Protest-Aktion zur Debatte über die Einführung eines Verbots von Kopftüchern bei Kindern in Schulen initiiert:
https://vunv1863.wordpress.com/2018/04/15/kampagne-fuer-das-kinderkopftuch-islamistische-akteure/
Über verschiedene soziale Medien hergeleitet, kanalisierte man die Empörungswelle in eine Petition in einem offenen Petitionsformat und gewann über einhunderttausend Unterzeichner.
https://www.openpetition.de/petition/online/deine-stimme-gegen-das-kopftuchverbot#petition-main
Die Aktion lebte vor allem auch davon, dass es plötzlich nicht mehr um Kinder in der Schule ging, sondern man behauptete, es ginge tatsächlich um das allgemeine Kopftuchtragen überall. Der Petitionstext, aus dem der eigentliche Anlass noch hervorging, ging in der öffentlichen Debatte in den sozialen Medien oftmals unter. Im Furor einer Solidarisierung schaute dann der eine oder andere nicht mehr so genau hin. Die Fake-news-Welle rollte und wurde nachfolgend auch medial wahrgenommen. In Verkennung der Entstehungsgeschichte machte dies dann Eindruck bei den zuständigen Politikern – man ruderte zurück.
Die Forderung war am 14.04.2018 von der Pressestelle der „Hizb ut Tahrir“ verbreitet worden:
http://www.hizb-ut-tahrir.info/gr/index.php/mb/zmb-dr/1069.html
Interessant ist, dass die Kampagne schon Tage vor der „offiziellen Meldung“ von Hizb ut Tahrir auf den assoziierten Portalen verbreitet worden war, hier vom 11.04.2018:
Man kann durchaus hinterfragen, wer in dieser Sache die Leitfunktion übernahm.
Auch Personen aus konservativen muslimischen Kreisen schlossen sich an, zum Teil ohne zu wissen oder – bei Wissen – darauf aufmerksam zu machen, dass hinter der Kampagne Akteure einer verbotenen Organisationsstruktur standen. Im Furor verschwammen die Grenzen, was sicher auch die Absicht der islamistischen Akteure war. Man wollte unter eigener Führung die Ummah, die Gemeinschaft der Gläubigen, aktivieren. Man muss leider konstatieren, dass dies nicht unerheblich gelang. Moderate muslimische Stimmen gingen unter.
Schon vor der Veröffentlichung zum Kopftuchverbot hatte Hizb ut Tahrir jedoch einen anderen interessanten Mythos geschaffen, den sie dann nachfolgend nicht nur in der Stellungnahme zum Kinderkopftuch verwendet. Es geht um eine angebliche „Schily-Doktrin“:
„Der erstmalig von Otto Schily (SPD) geforderte Bekenntniszwang, führte zu einem Bruch zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der islamischen Gemeinschaft, dessen Verwerfungen inzwischen auf allen Ebenen spürbar sind. Die soziopolitische Sprengkraft der Schily-Doktrin besteht in der Suggestion, dass das gesellschaftliche Zusammenleben nur unter der Voraussetzung weltanschaulicher Homogenität möglich ist. Folglich sei ein Kampf zweier Lebensmodelle im Gange, bei dem es nur einen Sieger geben kann. Es ist diese Denkfigur, die der Mehrheitsgesellschaft das Gefühl vermittelt, dass Muslime in der BRD systematisch daran arbeiten, die hiesige Grundordnung abzuschaffen, um sie durch ihre eigene zu ersetzen. Die Schily-Doktrin ist der politische Nährboden für eine irrationale Abwehrhaltung gegen alles, was auch nur im Entferntesten an den Islam erinnert. Hass, Hetze und gewalttätige Übergriffe gegen Muslime und ihre Einrichtungen sind die logische Folge einer totalitären Integrationspolitik, die keinen Raum für die Existenz anderer Bekenntnisse lässt.
Vor diesem Hintergrund fordert Hizb-ut-Tahrir die beteiligten Akteure auf, einen entschiedenen Kurswechsel einzuschlagen. Wir warnen eindringlich vor einem überwunden geglaubten Politikverständnis, in dem Ideen und Menschen zugunsten des eigenen Weltbildes vernichtet werden sollen. Anstatt das Existenzrecht islamischen Lebens in der Bundesrepublik in Frage zu stellen und es abschaffen zu wollen, fordert Hizb-ut-Tahrir die Abschaffung dieser gescheiterten Integrationspolitik mit all ihren verheerenden Folgen! Um die zunehmende Radikalisierung der eigenen Gesellschaft aufzuhalten, muss ein alternatives Modell des Zusammenlebens konzipiert werden, welches die Differenz unterschiedlicher Bekenntnisse vollständig akzeptiert und nicht als Bedrohung der eigenen Lebenswelt begreift.“
http://kalifat.com/artikel/1934-eine-doktrin-mit-sprengstoff/
Ausgerechnet jene, die eine plurale Gesellschaft abschaffen wollen, werfen dieser pluralen Gesellschaft, der sie nicht mal den Minimalkonsens ihrer Erhaltungsgrundsätze zugestehen wollen, Totalitarismus vor. Im Opferduktus vorgebracht, der in einigen Kreisen hoffähig ist, könnte das sogar verfangen. Die Inanspruchnahme des Art. 4 (1) GG geht soweit, die Berufung auf ein gewährtes Recht wird so ausgedehnt, dass alle anderen Grundrechte, die manchmal auch in einer mittelbaren oder zumindest erhofften Drittwirkung Pflichten gegenüber anderen oder der Gemeinschaft umreissen, in den Hintergrund treten. Man mag glauben dürfen, was einem beliebt. Der weniger zentrierte Art. 4 (2) GG ist jedoch nicht schrankenlos und die Ausübung muss, schon weil man allen Bürgern Religionsfreiheit gewähren muss, Grenzen haben.* Die parallele Berufung auf Freiheiten, während man sie anderen nicht zugesteht, ist nur eine der Widersinnigkeiten dieser Bewegung, die aber keine kognitive Dissonanz auslöst: Man glaubt sich auf der Seite des (eigenen) Rechts, wähnt sich im Besitz der letzten Wahrheiten. Da sind Forderungen wie die, wenigstens das Grundgesetz anzuerkennen, das die eigenen Freiheiten HIER umreißt und garantiert (die auch individuell trotz Verbots genossen werden!) fast schon Gotteslästerung. An Selbstbewußtsein mangelt es da wahrhaftig nicht.
Wie eine solche ideologische Vorgabe dann unter Jugendlichen wirkmächtig wird, zeigt die Darstellung eines Sozialarbeiters die Tage auf Facebook:
„Ich arbeite ehrenamtlich in einem Fußballclub. Dort betreue ich Jugendliche und leiste viel Arbeit für die Integration von Migrantenkindern. Bei einem Turnier kamen die Jugendlichen mit T-Shirts bekleidet auf denen gedruckt stand: „Nein zur Schily-Doktrin“! Ich konnte damit rein gar nichts anfangen und war etwas überfordert mit dieser Situation. Erst im Gespräch mit den Jugendlichen erfuhr ich was damit gemeint war. Diese Jugendlichen glauben tatsächlich, dass sie zwangassimiliert werden sollen. Hatten einen Kampfbegriff gelernt und waren nur schwer von ihrer Überzeugung abzubringen. Warfen mit Zitaten von Politikern und Medienvertretern um sich, die ihre Sichtweise verstärkten.[…] Das haben sie von einem ihrer Mitschüler gehört. Er hielt ein Referat über Integration in seiner Schulabschlussprüfung. Jetzt versuche ich diesen Schüler und seine Eltern zu einem Gespräch einzuladen um mehr zu erfahren.“
Offensichtlich war das ein Mitschüler, der im Einflußbereich von Hizb ut Tahrir-Jüngern war, denn der Begriff findet sich bis jetzt tatsächlich nur in den Stellungnahmen von HuT. HuT gelingt es offensichtlich, an manche Opfernarrative von Muslimen als verfolgte Gruppe anzuschließen, die von Verbandsvertretern nicht selten breit propagiert werden.** All die Bemühungen der Mehrheitsgesellschaft, all die runden Tische, Konferenzen und gesonderten Ansprachen sind nicht genug. Weil es nie genug ist, rechtlich Gleicher unter Gleichen angeboten zu bekommen, wenn man doch der Auffassung ist, im Besitz der letzten Wahrheit zu sein und schon deshalb einen privilegierten Status quasi als Naturrecht ansieht. Natürlich wird von dieser Warte aus Integration („Gleicher unter Gleichen“) abgelehnt. Man will eher erst mal Teilhabe, weil man langfristig und identitär „legitimiert“ sozusagen „Ganzhabe“ anstrebt. Das aber gelingt nur, wenn man die eigene Jugend absondert und identitär gleichschaltet. Wenn man bei gleichzeitiger Absonderung ein eigenes Kollektiv schmiedet, das nur durch Definition eines anderen, abgelehnten Kollektivs umrissen wird. Die Jugendlichen sollen also tatsächlich „assimiliert“ werden. Aber in das HuT-Kollektiv.
Der betroffene Sozialarbeiter täte also gut daran, genau zu ergründen, woher T-Shirts und Narrativ stammen. Es kann gut sein, dass dort lokal ein HuT-Klüngel in Aktion ist. Dann muss man klären, was die Jugendlichen unter den „Kampfbegriffen“ tatsächlich verstehen und worin sie denn Zwang sehen. Das wird Geduld brauchen und diese kann man betroffenen Sozialarbeitern und Lehrkräften nur wünschen nebst bestmöglicher Unterstützung durch Präventionsdienstleister. Diese sollten aber durchaus in ihren Aktionen beobachtet werden; nicht wenige setzen darauf, dass alleine Diskriminierung die Ursache allen Übels sei. Dass also am Beginn der Kausalkette zwingend ausschließlich Handlungen der Mehrheitsgesellschaft stünden. Dass Diskriminierung, basierend auf othering, auch von islamistischen Akteuren benutzt wird, um eine empowerte islamistische Identität zu befördern, die schon bei Gleichbehandlung sich in ihrem Dominanzanspruch herabgesetzt sieht, ist zu wenig auf dem Radar (oder wird aus eigenen ideologischen Gründen abgelehnt).
Lehrer und Sozialarbeiter sollten also darauf achten, ob solche T-Shirts und solche Vorstellungen auch an ihren Einrichtungen verbreitet werden. Die Aufmerksamkeit ist notwendig, denn Hizb ut Tahrir-Anhänger neigen zur Mission; ein unbeachtetes Symptom kann also zu größeren Problemen führen als es gleich anzusprechen.
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Die anderen Grundrechte und die der Strafgesetze. Das ist im konkreten Fall eine Abwägungssache.
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Jenseits der natürlich vorkommenden und tatsächlich höchst verwerflichen Fälle von antimuslimischem Rassismus, der jedoch strikt abzugrenzen ist. So mancher Verbandsvertreter will ja schon statthafte Ideologiekritik und begründete Gegenpositionen zu politischen und reaktionären Haltungen als „Islamhass“, „Islamophobie“ und „hatespeech“ verunmöglichen und damit eigene reaktionäre Haltungen immunisieren.