Warum „bunt“ eine Momentaufnahme ist – aber kein Zukunftsmodell sein kann
In dem Beitrag „Bunt ist es nur von weitem“:
waren bereits einige Gedanken zur Wahrnehmung in einer multikulturellen Gesellschaft, einer „bunten“ und oberflächlichen Anmutung von Menschen aufgeteilt in Kollektive, ausgeführt worden. Vor allem war auch betrachtet worden, welche Wirkungen eine solche Zuordnung hat, der man nicht, nicht einmal durch Leistung oder willentliche Abkehr, entkommen kann. Eine Gesellschaft, in der es im Hinblick auf Rechte egal ist, ob ein Individuum einer Gruppe angehört, die – selber oder in der Fremdzuschreibung – als „bunt“ bezeichnet wird, ist eine im Hinblick auf diese Zuordnung nicht rassistische.* Partizipation wird über das Einfordern – und Einräumen – von Individualrechten erzielt, die auf der Annahme gleicher Rechte von Individuen fußt. Eine „bunte“ demokratische Gesellschaft ist an diesem Punkt das Ergebnis gleicher Individualrechte. Eine Gesellschaft, die also – Gleichberechtigung für das Individuum – „bunt“ ist, will eine nichtrassistische sein. In die Zukunft fortgeschrieben, spielt es schlicht keine Rolle und soll auch keine spielen, ob jemand „bunt“ ist. Er darf sich anderen Gruppen, Kollektiven, anschließen, kann somit – in der Eigenzuordnung – auch „nichtbunt“ werden, wovon seine Rechte unbeeinflusst bleiben. Er ist einfach Bürger wie jeder andere, da er primär als gleicher Bürger gesehen wird.
In einer rassistischen Gesellschaft hingegen werden Individuen wegen ihrer Zuordnung zu einem Kollektiv, meist einer Minderheit, mindere oder auch andere Rechte und Pflichten zugeordnet. Eine festgeschrieben „bunte“ Gesellschaft, also eine, die „bunt“ bleiben soll, ist im Grunde eine rassistische Gesellschaft. Personen sind – so banal das klingen mag – nicht „bunt“. Sie sind Menschen, Individuen, Bürger. Mit Eigenschaften zwar, unveränderlichen wie veränderlichen. Aber in der Priorisierung des Aspekts des Gegenübers, der „bunt“ macht und der möglicherweise auch gegen den Willen des Betroffenen an ihm sozusagen haften bleibt, entsteht eine Gesellschaft, in der das Einende nicht mehr vorrangig ist. Das Einende zeigt sich nämlich in Gleichbehandlung, auch in der Anerkennung als Gleichberechtigtem – Bürger natürlich nur, sofern man über die Staatsbürgerschaft verfügt. Wird „bunt“ zur Zielsetzung einer Gesellschaft, so tritt „bunt“ aus der Wahrnehmung einer schlichten, aber irrelevanten Eigen- oder Fremdzuordnung heraus. Eine „bunte“ Gesellschaft als Ziel ist die Selbstauflösung der Bürgergesellschaft als eine der Individuen in eine Gesellschaft der Kollektive; es ist eine Autolyse.
Das Kollektiv
Bürger mögen sich selber einer Gruppe zugehörig fühlen oder auch nicht, das ist ihre Entscheidung und Ausdruck ihrer Individualität. Steht jedoch eine Gruppenzugehörigkeit voran, individuell gewählt oder fremd zugeordnet, ändert sich die Betrachtungsweise. Das „Anderssein“ wird weniger an individuellen, eigenen, selbst gewählten Haltungen, denn Zuordnungen von außen festgemacht: an Vorurteilen und an Urteilen über ein Kollektiv, vor allem aber auch an Erwartungen des „eigenen“ Kollektivs. Denn Kollektive müssen sich, um nicht aufzugehen in anderen, abgrenzen. Sie müssen entscheiden, nach welchen Merkmalen man dazu, also zum eigenen Kollektiv, gehört oder nicht. Die persönliche Identität wird also auf diesen Aspekt eingeengt, wenn eine andere als die Bürger-Identität gesellschaftlich priorisiert wird.
Damit lässt man jene, die die Erwartungen eines Kollektivs, obwohl sie diesem nach dessen Sicht angehören, nicht erfüllen oder diese nicht wollen, alleine. Man anerkennt die Binnensicht, man grenzt damit aus, dass die aus Eigeninteresse umrissenen Regeln der Abgrenzung dieses Kollektivs für gültig und andere, Außenstehende, nicht angehend definiert werden. So ist es zum Beispiel zu verstehen, dass man muslimische Mädchen und Frauen, die sich nicht den Regeln eines zunehmend konservativeren bis fundamentalistischeren Islam-Verständnisses beugen wollen, doch diesem überlässt. Man stellt sich nicht an deren Seite, kämpft als Frauenrechtlerin nicht für sie, sondern läuft den absichtlich fehlleitenden Narrativen von Aktivistinnen nach. Diese definieren flott die Bedeckung zum Freiheitssymbol um. Wenn man die Mädchen und Frauen, die derlei „Freiheit“ als Gegenpol zu den wirklich feministischen und freiheitlichen Werten nicht wollen, die die Menschenrechte für sich nach UN-Charta haben wollen und nicht nach Kairoer Erklärung, alleine lässt, verrät man eben diese Werte im Rahmen einer bequemen und euphemistischen Toleranz-Simulation. Tolerieren kann man nämlich nur, was man mindestens grob kennt. Kennt man es nicht, gibt sich keine Mühe, es zu kennen, wozu man sich positioniert, ist es lediglich der bequemste Weg, sich eben nicht befassen zu müssen und sich trotzdem als gut und kritisch wahrnehmen und auch selbst darstellen zu können. Zu den beiden Arten Feminismus:
Am Ende des Tages ist dies aber nur etwas, das darauf fußt, dass einem jene Mädchen und Frauen herzlich egal sind. Man tritt nicht für sie ein, wie man es für andere täte, wie man es für die eigene Tochter täte, sondern ordnet sie einem Kollektiv zu, auch wenn sie es nicht wollen. Diese Art der Toleranz-Simulation führt also in einen Rassismus des guten Gewissens, in einen bösen Paternalismus, der Kollektiven um so mehr in die Hände spielt, je mehr sie sich als vermeintlich Schutzbedürftige zu gerieren verstehen. Identitär aufgeladen und weitergegeben fördert dies auch binnentotalitäre Strukturen, wenn sie Rechte für sich als Kollektiv der Mehrheitsgesellschaft gegenüber beanspruchen, die sie ihren „Mitgliedern“ gegenüber selber aber nicht gewähren. Gegen diese Binnenverhältnisse hat man dann nichts mehr entgegenzusetzen, wenn man das „Anderssein“ – hier gleich „bunt“ – positiv besetzt, fördert und so perpetuiert. Wer das Einfordern von Individualrechten mal begrüßt und unterstützt, sofern es in der Mehrheitsgesellschaft geschieht, es damit zur allgemeinen gesellschaftliche Angelegenheit, ein anderes Mal zur Privatsache des Individuums gegenüber seinem Kollektiv erklärt, gibt die Solidarität gegenüber dem Individuum auf, das um seine Rechte kämpft.
Individuelle versus kollektive Partizipation
Diese gleichen Rechte führen – im Idealfall – zu einer gleichberechtigten Teilhabe des Individuums. Ordnet man die Individuen jedoch primär Kollektiven zu, so gewinnt diese Zuordnung derart an Gewicht, dass die „Mitglieder“ dieses Kollektivs nicht nur, ungeachtet ihrer Binnenverhältnisse, nicht nur Gleichberechtigung, sodnern auch Teilhabe fordern (können).
Teilhabe als Gruppe bedingt, dass diese umschrieben ist und die Mitglieder als solche erkennbar sind und – bleiben. Aus individuell zu erzielenden Partizipationsvorhaben, die eigens begründet und im Gefüge der anderen in Konkurrenz mit diesen anderen Individuen erzielt werden müssen, werden individuelle Ansprüche, die kollektivistisch begründet werden können oder, um Konkurrenzen positiv zu entscheiden gegen Mitglieder der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, sogar müssen in der Erwartungshaltung des Kollektivs. Oder auch kollektivistisch abgewertet werden können: Aus dem Bürger Michael wird ein „alter, weißer Mann“, aus der Bürgerin Betül eine „junge, muslimische PoC-Frau*“. Beide, Michael und Betül, haben schon mit der Zuordnung, da haben sie als Individuen noch kein Wort gesagt, bereits allerlei Gegner, die auf diese Beschreibungen durchaus rassistisch anspringen. Schon die Zuordnung führt zu einer Spaltung, die Menschenfeinde verschiedener Richtung, aber doch vereint im Identitären, auf den Plan ruft.
Der Bürger Michael Mustermann kann sich gegen eine solche Priorisierung seiner Eigenschaften kaum zur Wehr setzen, weil er als Gegen- und Feindbild zur Abgrenzung benötigt wird überall dort, wo es um die Repräsentanz von „bunt“ geht, genauso wie Betül Musterfrau als Gegen- und Feindbild von rechten Kreisen aufgebaut wird und sich ebenso dagegen kaum zur Wehr setzen kann. Die erste Art der Zuordnung eines Feindbildes, auch ein Rassismus, denn er ist von diesen unveränderlichen Eigenschaften geprägt, nicht von Haltungen, wird nicht selten als nichtrassistisch deklariert. Weil man dem „alten, weißen Mann“ Privilegien zuschreibt, die er gegenüber einem alten PoC-Mann gleicher sozialer Schicht haben mag. Die Gruppe „alter, weißer Männer“ jedoch pauschal als mächtig, Angehörige anderer Gruppen hingegen prinzipiell als ohnmächtig zu beschreiben, geht an der Realität vorbei. Personen ungeachtet ihrer sonstigen Merkmale nur anhand der Zurechnung irgendwelcher Mittelwerte als privilegiert oder unterprivilegiert zu bezeichnen, lenkt den Blick davon weg, dass es sehr viel mehr Privilegien im Diskurs gibt denn Alter und die Einordnung „weiß“ oder auch nicht. Bildung, Vermögen und noch einige andere Merkmale bestimmen relevant mit, wie weit man an Diskurs und Macht teilhaben kann, wo man individuell seine Stellung in der Gesellschaft findet. Diese Unterschiede wahrzunehmen ist wichtig. Nicht nur, weil man sonst Individuen nicht gerecht wird. Sondern auch um eine Gesellschaft als Vision zu haben, in der derlei Zuordnungen keine Auswirkungen mehr darauf haben, ob man gleichberechtigt ist oder nicht. „Buntsein“ gezielt und gesondert zu befördern, ist an diesem Punkt kontraproduktiv. „Bunt“ taugt wenig als Zielvorgabe, denn sie führt über positive Verstärkung der Unterschiede in diesen Kategorien zur Festschreibung der Unterschiede.
Aus diesem Grund heraus ist auch der These von Aladin El-Mafaalani, die er unter anderem in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ vertritt, zu widersprechen, nach der sich bessere Integration in vermehrten Konflikten zeige. Die Methoden und Möglichkeiten von offener Gesellschaft und Rechtsstaat zu kennen, sie anzuwenden zu verstehen, ist nicht gleichbedeutend mit Integration. Zumindest dann nicht, wenn nicht Individualrechte eingefordert werden, sondern Kollektive, mal verdeckt, mal offen agieren. Bei diesen Kollektiven stellt sich nämlich die Frage, welche Gesellschaft sie wollen. Kollektive, die eine offene Gesellschaft im Grunde ablehnen, sich in einer nur zu bewegen verstehen, mangelt es grundsätzlich an der Übereinkunft der Integration: Dass eine Gesellschaft besteht, in die man sich zu integrieren gedenkt, die man aber nicht grundsätzlich, nicht in ihrem demokratischen Wesenskern, zu verändern beabsichtigt. Spätestens wenn in einer zukünftigen Wunsch-Gesellschaft eines Kollektivs der Souverän nicht mehr der Bürger sein soll, sondern Gott, läuft dieses Kollektiv mit einem ganz anderen und gegensätzlichen Betriebssystem. Man steht grundsätzlich daneben und die konfliktträchtigen Verhandlungen, wie wir denn gemeinsam in Zukunft leben wollen miteinander, laufen sozusagen in einer anderen Matrix ab. Auch kompatibel erscheinende Handlungen, etwa des legalistischen Islam, sind nicht als letztlich integrativ wirkende Handlungen zu sehen, sondern als Handlungen eines konkurrierenden Kollektivs, das versucht, die eigene Interessensphäre auszudehnen, ohne die eigenen Grundsätze in Frage zu stellen. Dies gilt auch, wenn über den Hebel der Individualrechte versucht wird, grundsätzliche rechtliche Regelungen und Veränderungen zu erzielen, die nur auf den ersten Blick individualrechtlich motiviert sind.**
„Bunt“ als Zukunftsvision?
Wenn „bunt und vielfältig“ nicht mehr das natürliche Ergebnis herzustellender gleicher Chancen sein soll, sondern Ziel gesellschaftlicher oder organisationsstruktureller Maßnahmen, werden Leistungsgedanke und gleiche Rechte hintan gestellt: aus gleich wird gleicher. Wenn „bunt“ eine Zielgröße ist, schafft man eine Konkurrenzverzerrung. Die positive Verstärkung eines „bunt“-Seins fördert die Rückbesinnung und die positive Besetzung des „Andersseins“. Der „bunte“ Bürger grenzt sich vom „weißen“ Bürger ab, wenn dies Vorteile erbringt. Das ist also keine Änderung der Verhältnisse, sondern bewirkt eine Umkehrung. Bedenkt man die Mehrheitsverhältnisse, kann einen der nahezu unvermeidliche Rollback da nur das Fürchten lehren.
Denkt man diesen Ansatz nämlich weiter, über den Moment hinaus, so stellt sich die Frage, ob es „bunt“ bleiben soll oder welche Vorstellungen von Zukunft solche kollektivistischen Ansätze bergen. Präferiert man nicht Integration, vielleicht auch Assimilation, und individuelle Chancengerechtigkeit, sondern kollektivistische Teilhabe an Gesellschaft als Modell, so stellen die unterschiedlichen Kollektive zugleich Interessengruppen dar: ein bestehender „Kuchen“, bestehend aus Macht, öffentlichen Mitteln und politischer Teilhabe, soll unter diesen Kollektiven aufgeteilt werden. Ein Beispiel ist die Erschaffung einer „islamischen Wohlfahrt“. Während etwa christlich konnotierte und Arbeiterwohlfahrt hierzulande die Geschichte haben, dass sich sonst zu wenig um die soziale Fürsorge gekümmert wurde, stellt man eine solche „islamische Wohlfahrt“ dergestalt auf, dass die speziellen Bedürfnisse von Muslimen dort besser erfüllt werden sollen, und das, obwohl diesen Bedürfnissen bereits an vielen Stellen Rechnung getragen wird. Die Frage ist: Haben die hier lebenden Muslime tatsächlich so andere Bedürfnisse, wollen und brauchen sie wirklich die Religionsdurchdringung ihres Alltags in dieser Weise? Umfragen da existieren nach meiner Kenntnis nicht. Eine diesbezügliche Frankfurter Organisation, der „Grüne Halbmond“**, hat mit einer dem Anschein nach unzureichenden Nachfrage zu kämpfen. Was allerdings sthenisch wahrnehmbar ist, ist der Wunsch nach neuer Aufteilung bestehender Mittel zugunsten von Akteuren, die islamistischen Strukturen nahestehen oder ihnen angehören. Man fordert von den bestehenden Wohlfahrtsträgern Verzicht und Akzeptanz. Diese Art der Teilhabe wird berechtigt spätestens dann kritisch gesehen, wenn sie nicht belegbar einem breiten Wunsch entspricht. Eine Teil-Nahme, eine Abführung von öffentlichen Mitteln in einen Sektor, in dem es auch Strukturen und Akteure im Graubereich gibt, kann man nicht wollen.
Aus vermeintlich Folklore und eher kultureller Rückbesinnung wird also vielerorts Interessenvertretung. Das mag in manchen Fällen seine Berechtigung haben; erforderlich ist da jedoch, genau hinzusehen. Auch dort ist Vielfalt anstrengend, will man nicht die Falschen fördern. Interessenvertretungen neigen zur Selbsterhaltung, denn Interessenvertretung gebiert Interessenvertreter. Hauptamtliche Interessenvertreter, Lobbyisten schärfen das Profil der eigenen Gruppierung, versuchen sich trotz Abgrenzung von der Konkurrenz als Vertreter möglichst vieler des Kollektivs darzustellen. Nicht immer entspricht dies der Realität.
Ein größeres Kollektiv hat Vorteile in einer demokratischen Gesellschaft
Am Beispiel Männer und Frauen, einem anderen kollektivistischen Ansatz, einmal durchdekliniert: Nicht mehr der individuelle Leistungsgedanke spielt etwa bei politischer Teilhabe eine Rolle, bei dem es egal ist, wer die bessere Leistung erbringt – wie immer man die misst -, sondern die Frage, ob die Person ein Mann oder eine Frau ist. Die Abkehr vom Leistungsgedanken zwischen den Gruppen zum Beispiel über eine Quote birgt dort also die Gefahr, dass Konkurrenz zwischen den Gruppen unterlaufen wird, die eigentlich, etwa im innerparteilichen Diskurs, notwendig ist. Schreibt man das fest, werden die Haltungen, die ein Individuum hat, zweitrangig. Es wird auch nachrangig, wie viele des einen Kollektivs, das gleiche Rechte als Kollektiv beansprucht, tatsächlich für den Teilhabe-Anspruch stehen. Das schafft neue Ungerechtigkeit mit einem Werkzeug, das zur Linderung bestehender Ungerechtigkeit gedacht war. Wenn bei zum Beispiel bei einer Listenaufstellung das Reißverschluss-Prinzip, also ein Mann und eine Frau abwechselnd, herrschen soll, klingt das zunächst gut und gerecht. Wenn man jedoch weiß, dass nur halb so viele Frauen im Schnitt sich parteipolitisch engagieren, wird sofort offensichtlich, dass bei sonst gleichen Gegebenheiten eine Frau eine doppelt so hohe Chance hat, berücksichtigt zu werden, wie ein Mann. Es ist also ein starkes Anreiz-System, das, wenn der gewünschte Effekt, also 50 Prozent Frauen in den Parteien, ausbleibt, eine kleine(re) Gruppe Menschen bevorzugt. Auch dort wird bei Kritik in Form von Hinweisen auf die neue Ungerechtigkeit ähnlich argumentiert wie bei anderen Gruppen, die Teilhabe über den kollektivistischen Ansatz verfolgen: Ob eine Person leistungsschwach sei, spiele keine Rolle, denn es gebe ja auch leistungsschwache der bislang privilegierten Gruppe – hier: die Männer. Frauen stellten über 50 Prozent der Bevölkerung, müssten also proportional zur Gesellschaft berücksichtigt werden. Sie seien immer noch – als Gruppe – benachteiligt*****. Und nicht zuletzt kommt dann oft auch noch als Argument, dass nach 5.000 Jahren Patriarchat nun mal „die Frauen“ ran müssten. Das kann man wollen, nicht aber um den Preis neuer Ungerechtigkeit.
Es gibt in einer Demokratie keine Erbsünde
Ein individueller Mann kann wenig für die Sünden der patriarchalischen Altvorderen, genauso wenig, wie ein individueller „alter, weißer Mann“ für die britische Herrschaft in Indien oder die junge Betül für die Zustände im Osmanischen Reich. Relevant ist nur, wie sich das Individuum zu diesen, in der Vergangenheit liegenden, Handlungen stellt und wie es seine Handlungen, die in die Zukunft gerichtet sind, daran misst und messen lässt. Ähnliches gilt für Gruppen: Man kann ihnen eigene Handlungen zurechnen oder jene früheren Handlungen anderer, in deren Folge sie sich stellen.
Eine Interessengruppe hätte ferner das Interesse, einerseits sich als möglichst groß darzustellen und andererseits sich von anderen Interessengruppen abzugrenzen, sofern es unterschiedliche Interessen gibt. Gegenüber der Instanz, die die größte Interessengruppe repräsentiert, hätte sie zudem den Anspruch, dass diese Machtanteile abgibt. Mit der positiven Besetzung von ganzen Kollektiven als anders und schon deshalb pauschal positiv, begibt sich die Gesellschaft in eine Art Autolyse. Die Individualrechte auf Gleichbehandlung werden von Kollektiven beansprucht, was einer Aufweichung des Gleichbehandlungsgedankens der Bürger darstellt. Wenn gleiche Rechte und erst recht Teilhabe von Kollektiven das Ziel sind, wird eine Beurteilung und Hierarchisierung von Kollektiven abgeschafft und damit auch der Selbsterhalt der offenen Gesellschaft: Wenn auch Kollektive, die eine grundsätzlich andere Gesellschaft wollen, gleichberechtigt sein sollen, gibt man den Gedanken, die offene Gesellschaft sei nicht nur Möglichkeit, sondern auch Rahmen, der von allen mitgetragen wird, auf. Wer an diesem Punkt den Rahmen nur noch auf den engen Bereich der Strafgesetze verschiebt, überlässt die Gesellschaft dem wachsenden Einfluss prosperierender Gruppen, die im Grunde verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. In Bezug auf religiös-fundamentalistische Gruppen mündet dies in die dauernde Herausforderung und Machtfrage. Ob eine Gesellschaft, die derart ihrer Grundsätze und Leitgedanken entkernt ist, gegen diesen Bestrebungen genügend Resilienz aufweist, wird sich zeigen müssen. Ein wenig Hoffnung mag geben, dass die offene Gesellschaft mit ihren Vorzügen vielleicht mehr Individuen überzeugt als autoritäre Modelle.
Ein Faktor sind dort allerdings frühe Sozialisation und enge und autoritäre Prägung. Wer religiös indoktriniert wurde, kann sich für die Angebote der offenen Gesellschaft nicht frei entscheiden, weil er Freiheit nie kennengelernt hat. Wenn Freiheit angstbesetzt ist, da sie mit Sündenimaginationen und im Falle des Erwartungsversagens Gruppendruck konnotiert ist, kann das kaum wählen. Und mehr noch, er wird jene, die frei(er) sind, abwerten. Will man also eine Chance haben, dass eine Gesellschaft, auch wenn sie „bunt“ sein will, nicht in Verteilungskämpfe von Kollektiven mündet, so sollten die Wertungen, die mit einer „bunten“ Zuordnung vergesellschaftet sind, auf ein Maß zurückgefahren werden, das sich an den Binnenverhältnissen und auch an den Binnensichten eines Kollektivs gegenüber anderen, seien es Individuen oder andere Gruppen, bemisst. Der Gleichberechtigungsgedanke muss befördert werden, die Individualrechte auch gegen Kollektive geschützt und befördert werden.
Freiheit, individuelle Wahlmöglichkeit, kann nur darüber erhalten und ausgebaut werden.
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* Der Rassismusbegriff hat hier gewisse Schwierigkeiten, da er sich eigentlich auf Nationalitäten oder Ethnien bezieht, seit einiger Zeit aber auch auf Religionszugehörigkeiten bezogen wird. Er sei hier aber in Kenntnis dieser Schwierigkeiten benutzt.
** PoC = „People of Colour“
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Insofern verwundert auch, dass die juristischen Bestrebungen Fereshta Ludins hinsichtlich des Tragens eines Kopftuchs im Schuldienst nur individuell betrachtet dargestellt werden im Buch. Ihre bestehenden Einbindungen und langjährigen Bezüge zu einem Kollektiv werden nicht aufgenommen. Der Leser wird nicht aufgeklärt und es fragt sich, warum diese relevanten Sachverhalte weggelassen wurden.
****Einige Informationen zum „Grünen Halbmond“ Frankfurt:
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Was in etlichen Bereichen leider noch der Fall ist; es gibt jedoch auch Bereiche, in denen Männer schlechtere Teilhabe-Chancen haben.
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