Mit ungewöhnlicher Verspätung wurde am Freitag in Wiesbaden der hessische Verfassungsschutzbericht für 2019 vorgestellt. Eine kurze Zusammenfassung unter dem Aspekt des Islamismus.
Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) hat am Freitag in Wiesbaden zusammen mit dem Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Hessen, Robert Schäfer, den Bericht des Landesverfassungsschutzes für 2019 vorgestellt. Wie bei allen anderen in diesem Jahr vorgestellten Verfassungsschutzberichten, wurde auch in Hessen betont, dass der Rechtsextremismus derzeit die größte Gefahr darstellt. „Trotz der gegenwärtigen Gefahr, die vom Rechtsextremismus ausgeht, dürfen die Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus, die gezielte Unterwanderung unserer Gesellschaft durch den legalistischen Islamismus, der zunehmend gewalttätigere Linksextremismus sowie der Extremismus mit Auslandsbezug nicht vernachlässigt werden“, schränkte Innenminister Peter Beuth jedoch im Vorwort des Berichts ein.
Warum der hessische Verfassungsschutzbericht in diesem Jahr der Öffentlichkeit so spät vorgestellt wurde, ist nicht bekannt. Teile des Zahlenwerks aus dem Bereich Islamismus sind offenbar schon vor der Vorstellung des Berichts für den Bund erstellt worden. Dies legt die Vermutung nahe, dass der Bericht oder zumindest große Teile davon schon vor Monaten fertig gestellt wurde.
Beim Personenpotential des Islamismus hat sich laut des Berichts mit 4.170, davon 1.650 Salafisten, gegenüber dem Vorjahr nichts verändert. Beim Rechtsextremismus ist das Personenpotential gegenüber 2018 durch die Beobachtung weiterer Organisationen von 1.475 auf 2.200 gestiegen. Im Bereich des Linksextremismus war nur eine leichte Steigerung von 2.570 auf 2.600 zu erkennen. Damit stellt der Islamismus gemessen am Personenpotential unverändert die am stärksten vorhandene Extremismus-Form dar. Verzerrt wird diese Betrachtung jedoch durch den auslandsbezogenen Extremismus, dessen Personenpotential im Vergleich zu 2018 von 4.330 auf 4.195 leicht gesunken ist.
Wenig über die „Grauen Wölfe“
Diesem Bereich wird auch die Ülkücü-Bewegung zugeordnet, die auch als „Graue Wölfe“ bekannt ist. Obwohl eine der wichtigsten Organisationen dieser Bewegung, die Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu, ADÜTDF), nach wie vor ihren gemeldeten Sitz in Frankfurt hat, lässt der Bericht nähere Bezeichnungen dazu vermissen. Zwar finden sich im aktuellen Bericht des Bundes dazu Angaben; so entgeht aber auch der Aufmerksamkeit, dass die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk-Islam Birligi, ATIB), deren Sitz zwar in Köln ist, die aber auch in Hessen relevante Strukturen aufweist und dort wichtige ihrer Funktionäre ansässig sind, mittlerweile auch berichtenswerte Bestrebungen betreibt.
Unter den salafistischen Beobachtungsobjekten wurde wieder der Marburger Moschee-Verein Dar al-Salem herausgestellt. Breiten Raum nehmen im Bericht die Aktivitäten der Gruppierung Realität Islam (RI) ein, die der verbotenen Hizb ut-Tahrir (HuT) zuzuordnen ist. Über die überregionalen Aktivitäten heißt es: „Dass RI-Aktivisten – neben dem Rhein-Main-Gebiet – auch Flugblattverteilaktionen in anderen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein) durchführten, deutet darauf hin, dass es Kontakte zu Angehörigen der HuT-Szene außerhalb Hessens gab.“
Schwerpunkt Muslimbruderschaft
Zu den Bestrebungen, über die wegen der Bezüge und der Teilnahme von hochrangigen Muslimbrüdern auch im Kapitel über die Muslimbruderschaft berichtet wird, zählt die Konferenz Anfang Januar 2019 in der Kölner DITIB-Moschee. Aus der gemeinsamen Abschlusserklärung der Teilnehmer werden die Punkte 8 und 12 herausgegriffen, die sich um den universellen, auch gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch eines unverfälschten Islams sowie um die Erziehung der Jugend zu diesem Islam beziehen. Die generelle Absage an einen „Euro-Islam“ wird ebenfalls aufgegriffen.
Der Fatwa-Ausschuss Deutschland wird ebenso erwähnt wie der im Berichtsjahr gegründete Europäische Rat der Imame: „Unter den Mitgliedern des neuen Gremiums, das laut eigener Aussage rund 50 Mitglieder aus etwa 20 europäischen Ländern umfasste, befanden sich unter anderem Personen aus Hessen mit Bezug zum MB-/DMG-Netzwerk, der in Deutschland ansässige Präsident der MB-Dachorganisation Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE, Föderation Islamischer Organisationen in Europa – nunmehr Council of European Muslims) sowie einige Funktionäre des ECFR.“
Die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG, ehemals Islamische Gemeinschaft in Deutschland, IGD) wird auch nach Umbenennung weiter im hessischen Bericht geführt. „Allerdings steht die DMG als wichtigste Organisation des deutschen MB-Netzwerks inzwischen unter Druck. Mit ihrer Umbenennung, neuem Auftreten und ihrer Klage gegen ihre Nennung im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht wollte die DMG ihre belastete IGD-Vergangenheit hinter sich lassen, ohne tatsächlich Änderungen an ihrer Ideologie, ihrem Personal und ihren Zielen vorzunehmen. Ihr faktischer Ausschluss aus dem ZMD ist ein schwerer Rückschlag für die DMG. Die Entscheidung des ZMD entfaltet eine beachtliche Signalwirkung, da die DMG Gründungsmitglied des ZMD ist und bisher als einflussreichste Organisation in dem Gremium galt“, heißt es dazu. Ob tatsächlich die DMG oder nicht vielmehr – unter anderem über den ZMD-Vorsitzenden – das Islamische Zentrum Aachen die einflussreichste Organisation im Zentralrat der Muslime (ZMD) darstellt, ist fraglich. Da die der DMG zuzuordnenden Vorstandsmitglieder auch weiterhin in Funktion sind, erscheint der angebliche Ausschluss daher eher taktisch.
Doppelte Botschaften der Milli-Görüs-Bewegung
Bei der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) wurde von organisatorischen Verlagerungen im Zusammenhang mit der Saadet Partisi (SP) berichtet: „Im Verlauf des Berichtsjahrs gab es bedeutende Personalveränderungen bei den Funktionären der SP Hessen. So übertrug der Vorsitzende der europäischen SP-Jugendorganisation im März den Vorsitz über die Jugendorganisation der SP Hessen an einen neuen Verantwortlichen. Ende Juni entband der Vorsitzende der europäischen SP auch den Vorsitzenden der SP Hessen von seinem Amt. Beide Funktionäre der SP Hessen konzentrierten sich fortan auf ihre Aufgaben innerhalb der europäischen SP-Vertretung, blieben der SP Hessen aber weiterhin eng verbunden.“
Unter Bezugnahme auf einen hochrangigen türkischen Funktionär wird im Bericht die Zeitung Milli Gazete „als Sprachrohr der Milli-Görüs-Bewegung“ bezeichnet. Zentrale Aussagen etwa zu Israel werden benannt: „Im Februar berichtete die Milli Gazete über ein Symposium anlässlich des 40. Jahrestags der Islamischen Revolution im Iran und die Rede eines SP-Funktionärs, der gesagt habe, dass das Ende der Juden, der Imperialisten und der Zionisten bald kommen werde. In Bezug auf den im Juli 2016 in der Türkei gescheiterten Putsch erklärte der stellvertretende SP-Vorsitzende, so ein Bericht der Milli Gazete, dass dahinter die USA, das ,zionistische‘ Israel und der ,rassistische Imperialismus‘ steckten.“ Im Gegensatz zu verschiedenen Marketing-Aktionen der IGMG können im Bericht aufgeführte Zitate in der Zeitung gesehen werden: „So hieß es Anfang Juli im Zusammenhang mit der ,Widerstandslehre‘ im Islam, dass deren erste Pflicht darin bestehe ,Imperialismus‘, Amerika, Israel und ,alle Tyrannen und alle arroganten Menschen‘ zu verabscheuen. Die Gläubigen sollten sich nicht mit Ungläubigen, sondern nur mit Gläubigen befreunden.“ Damit wird zur eigenen Gemeinschaft hin etwas anderes propagiert als etwa mit der Aktion „Gestatten, Muslim“ zur Mehrheitsgesellschaft hin signalisiert wird.
Von der in Hessen vor allem in Wiesbaden aktiven Türkischen Hizbullah (TH) werden verschiedene Tarnmanöver berichtet: „Die Vahdet-Moschee in Wiesbaden benannte sich Anfang 2019 in Westend-Moschee um. Auch der Moscheevorstand wurde ausgetauscht. Hierbei handelte es sich jedoch lediglich um eine äußere Veränderung, denn ideologisch hielt die Westend-Moschee weiterhin an ihren Verbindungen zur TH fest. So beschäftigte die Moschee im Berichtsjahr mehrere Monate lang erneut einen hochrangigen TH-Funktionär als Imam.“
Neu im Bericht wird „ein Ableger von al-Qaida in Ostafrika als weitere relevante islamistische Gruppierung“ aufgeführt, die Harakat al-Shabaab al-Mujahidin (al-Shabaab, Bewegung der Mujahidin-Jugend). Unklar bleibt jedoch, warum die Gruppierung aufgeführt wird, wenn jenseits der Bezugnahme auf einen Terror-Prozess, der allerdings mit einem Freispruch endete, keine weiteren Details etwa über örtliche Schwerpunkte oder Strukturbildung benannt werden.