Eine versklavte Jesidin sagt aus

In ihrer Einlassung vor Gericht präsentierte sich die IS-Rückkehrerin Nurten J. am Mittwoch naiv und unwissend. Die Zeugenaussage einer versklavten Jesidin am Tag darauf zeichnete jedoch ein anderes Bild der Angeklagten und bot zugleich schwer erträgliche Einblicke in die Gräueltaten des IS.

Der Hochsicherheits-Gerichtssaal des OLG Düsseldorf (Bild: Sigrid Herrmann-Marschall)

Mit der Einlassung der Angeklagten wurde der Prozess gegen die IS-Rückkehrerin Nurten J. aus Leverkusen am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) fortgesetzt. Die in Mazedonien geborene Nurten J. soll 2015 mit ihrer damals dreijährigen Tochter nach Syrien in das Herrschaftsgebiet der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) ausgereist sein. Dort soll sie als IS-Mitglied Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Außerdem werden ihr Kriegsverbrechen gegen das Eigentum, Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht sowie waffenrechtliche Verstöße zur Last gelegt. Die heute 35-Jährige wurde unmittelbar nach ihrer Ankunft am 24. Juli 2020 am Frankfurter Flughafen festgenommen.

Als sie am Mittwoch den Saal 2 des OLG-Hochsicherheitstraktes betrat und neben Serkan Alkan, einem ihrer Verteidiger, Platz nahm, trug Nurten J. einen kurzen Khimar, ein langes Kopftuch, das ponchoartig auch Ausschnitt, Schultern und Brust bedeckt. Bereits beim ersten Satz fing sie an zu weinen. Sie erzählte von ihren Eltern, die beide „islamisch geprägt“ seien. Ihr Vater sei „aggressiv“ gewesen, ihre Mutter liebevoll. Die Ungleichbehandlung durch ihre Eltern sei „unerträglich“ gewesen, klagte Nurten J.: „So wenig wie ich durfte, so viel durfte mein Bruder, der ein Junge war.“ Dabei weinte sie erneut, woraufhin Serkan Alkan die Verlesung ihrer Einlassung fortführte.

„Dass ich mich bedeckte, störte andere“

In ihrer Kindheit musste sie kein Kopftuch tragen, hieß es dann. Ihre erste Schwangerschaft mit 16 endete mit einer Abtreibung in Mazedonien. Nach ihrer Mittleren Reife habe sich eine weiterführende Schule als zu schwer erwiesen. Eine Ausbildung wurde wieder abgebrochen. Nach verschiedenen kurzzeitigen Jobs lernte sie 2006 den späteren Vater ihrer Tochter kennen. Dieser habe „Kontakt zu Alkohol und Drogen“ gehabt. Eine Begegnung mit einem Freund dieses Mannes führte jedoch dazu, dass sie begann, den Koran zu lesen. „Ich sah für mich die Wahrheit klar und deutlich“, hieß es. „Ich las alles über den Islam.“ Von nun an trug sie ein Kopftuch und nach der Geburt ihrer Tochter begann sie, sich weiter „zu bedecken“. Dies rief jedoch Ablehnung hervor, auch von Seiten ihrer Eltern.

Die Verlesung von Nurten J.s Einlassung dauerte fast 100 Minuten. Mehrfach wippte sie dabei minutenlang mit dem Oberkörper vor und zurück, als ob sie beten würde. Am Ende der fast romanartigen Erzählung war, in direkter Ansprache des Gerichts, von „Scham“ und „Reue“ die Rede. Das passte aber nur wenig dazu, dass sich Nurten J. zu einigen Punkten in fast epischer Breite äußerte, etwa zur Zeit ihrer Gefangenschaft in einem kurdischen Lager, zu den Anklagepunkten aber fast nichts gesagt hatte.

„Glaube, Auswandern und Heiliger Krieg“

So schilderte sie die Zeit ihrer Radikalisierung nur sehr knapp: „Ich war durch Facebook ein Teil der islamischen Gemeinschaft, auch wenn es nur virtuell war.“. Dabei war von mehreren Gruppen die Rede, unter anderem einer mit dem Namen „Iman, Hijrah und Jihad“ (Glaube, Auswandern und Heiliger Krieg). „Angeblich könnte man da (in Syrien, Anm. d. Autorin) als Frau mit Kindern gut leben“, hätte es 2013 dort geheißen. Außerdem „galt es als Sünde, in einem Land der Ungläubigen zu leben.“ Mehr sagte sie dazu nicht; nur einem Atemzug später waren sie und ihr Anwalt bereits bei ihrer Ausreise nach Syrien im Februar 2015.

Nachdem sie schilderte, in Syrien einer Ehe zugestimmt zu haben, sprach sie davon, dass ihr Mann schon bald „zur Arbeit“ musste. „Was er genau tat, wollte er mir nicht gleich erzählen.“ Nurten J. wollte es dem Gericht aber offenbar ebenfalls nicht erzählen und blieb auch weiterhin bei der Umschreibung, ihr Mann, zu dem sie ebenfalls nichts sagte, wäre „zur Arbeit gegangen“. Zu den Waffen, die sich in ihrem gemeinsamen Besitz befunden haben sollen, sagte sie ebenfalls kein einziges Wort.

„Ich habe sie immer gut behandelt“

Stattdessen sprach sie über ihren Haushalt und ihre Freundinnen in Syrien. Etwa über Sarah O., die sich ebenfalls vor dem OLG Düsseldorf verantworten muss. Die damals 16-Jährige, über die in diesem Prozess immer nur als „Umm O.“ gesprochen wird, habe eines Tages eine Jesidin mit ins Haus gebracht. Nurten J. habe sich damals „gedacht“, dass die Jesidin eine Sklavin sei. „Als ich hörte, dass der IS die Sklaverei wieder eingeführt hat, habe ich mich nicht damit beschäftigt“, ließ Nurten J. durch ihren Anwalt verlesen. „Ich war damals sehr naiv.“ Die Sklavin habe sie eher „als Kindermädchen wahrgenommen“. Dabei habe sie „keine Spuren gewalttätiger Übergriffe gesehen.“ „Ich habe sie immer gut behandelt“, beteuerte sie. Nachfragen zu ihrer Einlassung ließen Nurten J. und ihre Verteidiger nicht zu.

Am Tag darauf waren auch die Eltern von Nurten J. im Zuschauerraum. Die 35-Jährige begrüßte sie mit freundlichem Winken. Als der Vorsitzende Richter ihre Eltern in den Zeugenstand bat, machten diese aber sofort von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

Die einzige Zeugin am Donnerstag war jene versklavte Jesidin, die in den Besitz von „Umm O.“ und damit auch in das Haus von Nurten J. geriet. Die zierliche 30-Jährige, die im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms an einem geheimen und sicheren Ort untergebracht ist und in diesem Verfahren auch als Nebenklägerin auftritt, nahm zwischen ihrer Anwältin und einer Dolmetscherin Platz. Die Schilderungen der irakischen Staatsbürgerin waren klar strukturiert, präzise, gefasst und nüchtern, aber vielleicht auch deshalb für die wenigen Zuschauer im Saal emotional nur schwer zu ertragen.

Beim Überfall auf Shingal versklavt

So begann sie ihre rund dreistündigen Schilderungen mit dem Überfall von IS-Terroristen am 3. August 2014 auf die irakische Stadt Shingal. Dort lebten ihre und viele andere jesidische Familien. Ihr Dorf wurde elf Tage vom IS eingekesselt, schilderte sie. Dennoch wurde das „Angebot“ der IS-Terroristen, zum Islam zu konvertieren, von den Bewohnern einhellig abgelehnt.

Das aber mussten viele davon mit ihrem Leben bezahlen: „Unsere Väter und Brüder wurden erschossen, auch mein Vater und zwei meiner Brüder.“ Die Frauen wurden je nach Alter und ehelichem Status in mehrere Gruppen separiert, die dann voneinander getrennt wurden. Während die Mädchen „nach Syrien zu den IS-Männern gebracht und verkauft“ wurden, seien andere Frauen erschossen worden. In dem Lager, in dem sie zunächst einen Monat lang untergebracht war, konnten sich IS-Männer dreimal täglich Frauen „aussuchen“. Dann wurde sie für vier Monate in schiitische Dörfer verschleppt, „die nicht mehr bewohnt waren“. Von dort wurden junge Frauen in Bussen abtransportiert: „Die haben geguckt, wer jung und hübsch war, sie ausgesucht und mitgenommen.“

Sklavinnen wurden nackt begutachtet

Auf diese Weise kam sie mit zwei kleinen Brüdern, die sie als ihre Kinder ausgegeben hatte, zusammen mit anderen 150 Frauen und Kindern ins syrische Rakka. Dort mussten sich die Frauen ihren potentiellen Käufern nackt zeigen: „Die haben uns entkleidet und ausgezogen, um unsere Körper zu sehen.“ Danach wurde entschieden, welche Frau mitgenommen wurde. „14 Mal wurde ich beim IS verkauft, verschenkt und umgetauscht“, schilderte die Jesidin. Dabei sei sie von zwölf verschiedenen Männern vergewaltigt worden. Ein Fluchtversuch nach einem Luftangriff misslang.

Über „Umm O.“ geriet sie dann auch an Nurten J. „Sie haben gesagt, dass ihr Mann an die Front musste. Der war ein Kämpfer und ein Religionsgelehrter beim IS“, schilderte die versklavte Jesidin. „Ein Scharia-Mann“, präzisierte sie schnell. Auf die Nachfrage des Richters nach seiner Stellung in der Hierarchie des IS gab sie eine eher allgemein formulierte Antwort: „Die haben Freude daran gehabt, Ungläubige umzubringen.“

Ungefähr 50 Mal sei sie über „Umm O.“ mit Nurten J. zusammengekommen. „Als ich sie das erste Mal gesehen habe, trug sie eine Pistole um die Schulter“, schilderte sie. Später habe sie sie mehrmals so gesehen. IS-Frauen mit Waffen seien dort „üblich“ gewesen. „Aber es gab im Haus auch schwere Waffen: Ein großes Gewehr und zwei Pistolen, für jeden eine.“ Die Marke des Gewehrs konnte sie jedoch nicht nennen. Daraufhin ließ der Vorsitzende Richter Lars Bachler auf der Leinwand im Gerichtssaal ein großes Foto einer AK-47 „Kalaschnikow“ zeigen und fragte sie, ob es ein solches Gewehr gewesen sei. Die Jesidin bejahte das sofort.

„Umm O.“ soll bei Vergewaltigung „geholfen“ haben

Die Arbeit, die sie als Sklavin rund zwei Jahre lang bei Nurten J. verrichten musste, habe hauptsächlich aus Putzen und Aufräumen bestanden. „Wenn ich im Haus war, hat sie sofort die Tür hinter mir verschlossen, damit ich nicht flüchten konnte.“ Da sie mit Nurten J. keine gemeinsame Sprache hatte, bekam sie ihre Anweisungen hauptsächlich von „Umm O.“ Auf die Frage des Richters, ob sich Nurten J. auch einmal bei ihr bedankt habe, antwortete sie: „Nein. Ich war ja gezwungen, das zu machen.“ Und: „Ich war die Dienerin.“

Mit der Feststellung, nie von ihr geschlagen worden zu sein, entlastete die Jesidin Nurten J. zunächst. Als die Staatsanwältin jedoch nachbohrte, wie sie von „Umm O.“ und deren Mann behandelt wurde, zeichnete sich plötzlich ein ganz anderes Bild ab: Deren Mann habe sie mehrfach vergewaltigt und dabei habe „Umm O.“ auch „geholfen“, antwortete sie. Nurten J. sei darüber auch „informiert“ gewesen: „Sie wusste, dass ich in deren Haus vergewaltigt werde.“ Wenn sie von „Umm O.“ geschlagen oder misshandelt wurde, sei Nurten J. in diesem Moment auch oftmals mit im Haus gewesen.

Auch sei ihr und anderen Sklavinnen, unter denen sich auch eine Christin befunden habe, einmal im Ramadan die Nahrung verweigert worden. In einem Streit habe Nurten J. sie einmal als „dreckige Ungläubige“ bezeichnet und ihren Verkauf gefordert, da sie „nicht gehorsam“ gewesen sei, schilderte sie weiter.

„Sie hat das Kind beschimpft und geschlagen“

Dann berichtete die Jesidin darüber, wie auffällig schlecht es der kleinen Tochter von Nurten J. gegangen sei. Diese habe im Gegensatz zu anderen Kindern weder Spielzeug noch Süßigkeiten bekommen. Auf einem Laptop habe das Kind IS-Propagandavideos gesehen, auch solche, in denen „Leute geköpft wurden“. Bei Luftangriffen habe das kleine Mädchen geweint und geschrien, woraufhin ihre Mutter sie geschlagen habe. „Was ich da gesehen habe, passt nicht zu Müttern. Mütter behandeln ihr Kind nicht so“, sagte die Jesidin. „Ich war zwei Jahre dort. Und ich habe nicht gesehen, dass sie mit dem Kind freundlich und normal umgegangen ist.“

Auch zum Ende ihrer Vernehmung wirkte die versklavte Jesidin konzentriert und gefasst. Auf die Frage, wie es ihr heute mit alledem gehe, sagte sie: „Das ist schwierig, alles zu verarbeiten. Die Gräueltaten des IS werden erst mit dem Sterben vergessen sein. Sie haben unsere Ehre zerstört, unsere Familien, alles.“ Nach einer kurzen Sprechpause ergänzte sie: „In Gerichtsverfahren wie diesem leugnen sie alles. Aber das ist alles gelogen.“

Offenbar missfiel das der Verteidigung, denn Martin Yahya Heising, der andere Anwalt von Nurten J., kündigte sofort an, dass die Befragung der Zeugin durch die Anwälte „nicht mehr als drei bis vier Stunden“ dauern werde. Faktisch kündigte der für seine zuweilen aggressive Verteidigung bekannte Heising damit an, die Jesidin am kommenden Mittwoch einem harten und langen Verhör unterziehen zu wollen. Damit dürfte die Jesidin den unangenehmsten Teil ihrer Vernehmung noch vor sich haben. Dass sich eine Frau, die solche Gräueltaten überstanden hat, davon einschüchtern lässt, darf jedoch bezweifelt werden.

Der Artikel wurde am 15. März um 18 Uhr 52 geändert. Grund war der Hinweis einer der Anwältinnen der vernommenen jesidischen Zeugin, deren von einer Dolmetscherin übersetzter Angabe zu den Vergewaltigungen sei nicht auf deren Anzahl bezogen gewesen, sondern auf die Zahl der Männer, von denen sie vergewaltigt wurde. Ich bitte, den Fehler zu entschuldigen.

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