Blindflug ins Unglück

Unwissenheit über biologische Grundlagen schafft manches furchtbare persönliche Leid, das im Grunde vermeidbar wäre. Das geht vom Kind, das wegen Impfverweigerung der Eltern stirbt, über Frauen, die wegen des Vertrauens auf Quacksalberei qualvoll an Brustkrebs sterben, bis hin zu Menschen, die immer wieder auf (gesunde) Kinder hoffen, denen aber z.B. wegen mangelnder Information diese verwehrt bleiben. Auch in Parallelgesellschaften sind diese Probleme vorhanden. Dort hat dies jedoch meist noch andere Ursachen als in der Mehrheitsgesellschaft. Während in letzterer oft eine Furcht vor der „Pharma-Mafia“ eine Rolle spielt oder ein generelles, aber unbegründetes Vertrauen in „die Natur“, sind in diesen Communities nicht selten auch Tradition und Glaube Gründe für vermeidbares Unglück.

Aktuell aufkommend ist z.B. Hijama, das blutige Schröpfen, das gegen allerlei ernsthafte Erkrankungen eingesetzt wird. Oft von Personen, die nicht einmal die (untaugliche) Methode und die Hygieneregeln sicher beherrschen, aber in der Community fröhlich und ohne Heilpraktikergenehmigung, die rechtlich erforderlich ist, anbieten. Oder wenn der Rat bei ernsthaften psychischen Störungen beim Imam gesucht wird und nicht beim Fachmann. Mangelnde Impfungen sind in anderen Communities ein Problem (und ja, auch in der Gruppe der „Waldorf-Eltern“ ist das eine häufige Einstellung).

Das Thema Verwandtenehen ist heikel, weswegen die Betroffenen damit gerne alleine gelassen werden: Man nimmt lieber in Kauf, dass andere Menschen leiden aus Unkenntnis als durch die Thematisierung sich selber durch herzlose Personen, die das in falsche Zusammenhänge setzen wollen, vermeintlich angreifbar zu machen. Das ist menschlich teilweise verständlich, aber als Haltung dennoch politisch nicht akzeptabel. Es geht um Information, die frei bessere Entscheidungen potentiell Betroffener selber ermöglicht, und nicht um Paternalismus oder gar Schlimmeres.

Verwandtenehen über Generationen als Ursachen sind für manche Familien verantwortlich, in denen kaum ein Kind gesund zur Welt kommt oder häufig Fehlgeburten stattfinden. Die Frauen werden unter einen erheblichen Druck gesetzt, nun endlich den erwünschten gesunden, schlauen und fröhlichen Stammhalter in die Welt zu setzen. In mancher patriarchalen Community wird nicht die Genetik verantwortlich gemacht, sondern mangelnde Gottesfürchtigkeit, „schlechtes Blut“ oder böser Wille nur der Frau oder Sündhaftigkeit beider Eltern. Es wird also nicht nur die Ursache falsch beurteilt, sondern auch noch den (mit-)leidenden Eltern Schuld zugeordnet. Mir wurde unter vielen anderen ein besonders eklatanter Fall berichtet: 5 schwerstbehinderte Kinder aus einer Verwandtenehe, die Probleme wahrscheinlich durch diese bedingt. Die Frau war zum Berichtszeitpunkt zum 6. Mal schwanger und beide Eltern meinten, man versuche es weiterhin im Vertrauen auf Gott. Überdies seien die Kinder in der Einrichtung sehr gut aufgehoben, man sei dankbar, lehne aber eine genetische Beratung ab. Berichtet von einer Mitarbeiterin eines großen Wohlfahrtsverbandes, die die Pflege der Kinder organisierte. Solche Haltungen gibt es natürlich auch bei Fundamentalchristen, bei denen die Geschlechtspartner wegen gleichartiger, aber nicht direkt in Erscheinung tretender genetischer Probleme zwar Nachwuchs haben, aber sich diese Erkrankungen dann bei den Kindern zeigen. Bekannt ist dies z.B. von den Amish in den USA. Auch dort ist es ein Gründereffekt, ein Inzuchtproblem.

 

Bildquelle: s.u.

Es ist jedoch hierzulande mehrheitlich ein Problem innerhalb migrantischer Communities.

Meist vermeidbar wäre dies, indem man Menschen über die Gefahren fortgesetzter Verwandtenehen über Generationen aufklärt. Indem man ihnen vermittelt, dass arrangierte Ehen die biologischen Mechanismen der Partnerwahl außer Kraft setzen, die häufig solche Problemlagen umgehen helfen. Nebenbei werden auch Männer nicht selten nicht gefragt, welche Partnerin nun die ihre fürs Leben werden soll. Die Familie sucht aus unter traditionellen Gesichtspunkten. Dass diese Traditionen auch in Deutschland fortgeführt werden, ist wenig bekannt. Es betrifft nicht unerhebliche Anteile der türkischen, pakistanischen, indischen, (nord-)afrikanischen Community. Ebenso kommt es in indischen Familien vor, manchmal bei Tamilen, aber auch selten bei Aleviten. 1

In manchen Ursprungsländern werden bereits Kampagnen durchgeführt, um da zu helfen und aufzuklären. Warum nicht bei uns? Ein Angebot lässt doch immer noch die Freiheit, zu tun, was man beliebt.

Besondere Hilfe ist da nötig, wo Menschen aus Unkenntnis heraus leiden. Diese Unkenntnis ist im beschriebenen Bereich besonders groß. Das kann man nicht den Imamen oder dem Familienoberhaupt überlassen. Die tun es nicht, weil sie in diesem Bereich selber nicht über genügend Bildung und z.T. auch Problembewußtsein verfügen. Beim Hausarzt oder Kinderarzt findet das auch eher nicht statt, vielleicht dann, wenn die Ehe schon geschlossen wurde und die ersten Kinder bereits leiden.
Wie also sollen betroffene Migranten, die nach neueren Erhebungen für eine solche Information VOR Eheschließung durchaus dankbar sind, an diese für sie wichtigen und leidvermindernden Informationen kommen? Wie kann man da Problembewußtsein schaffen? Ja, es wird von manchen auch als ungehörig betrachtet, als Einmischung in familiäre Angelegenheiten, als Tabuthema. Diese Sicht haben jedoch meist nur diejenigen, die einfach das Glück hatten, dass es bei ihnen nicht zu sichtlichen Problemen kam. Das kann schon wieder ganz anders sein, wenn sie Großeltern werden.

 

 

Es scheint schon, dass es dazu lediglich des Willens bedarf.
Neben der stark erhöhten Wahrscheinlichkeit der Auswirkungen auf Kinder (es gibt erschütternde Zahlen aus GB), gibt es weitere Folgen solcher Arrangements. Menschen, die sich trennen wollen, verlieren oft den ganzen Clan, weil dieser Selbstbestimmung nicht billigt. Das trifft stärker die häufig trennungswilligeren Frauen, die aus dieser Verwandtsschaftsfalle nie mehr entkommen können oder wenn, nur unter erheblichen Opfern und oft genug Gefahren.

Frau Yasemin Yadigaroglu hatte vor Jahren ein Projekt an einer vhs im Ruhrgebiet. „Sie wünscht sich deshalb größere Präventivkampagnen, wie es sie in der Türkei schon seit einigen Jahren gibt.“ 2

Das war 2007. Es sind 7 Jahre ins Land gegangen und wir lassen die Menschen immer noch alleine. In Frankfurt / Rhein-Main ist das so. Stattdessen wird verkündet, „dass Ärzte und Pfleger andere Verständnisse von Krankheit und Gesundheit anerkennen“ sollen. Das mag bei Befindlichkeitsstörungen angehen. Das mag auch in der Pflege gelten. Die biologischen Grundlagen allerdings kann man mit einem „anderen Verständnis“ nicht aushebeln. Die Natur funktioniert unabhängig davon, ob und wie sie verstanden wird. Die Natur agiert nicht kultursensibel, auch wenn man diesen Umstand kultursensibel, aber klar kommunizieren muss. Wenn man Menschen vermeidbar Versuch und Irrtum spielen lässt aus dem aktuellen Ansatz heraus, macht man sich mitschuldig an ihrem Leid und dem ihrer Kinder. Sie haben bei Information immer noch die freie Wahl, ob sie den gut begründeten Ratschlägen folgen wollen oder nicht. Anbieten aber muss man die Information – um der Menschen Willen.

Wahrscheinlich gibt man derzeit mehr öffentliches Geld aus, um Kulturvereinen bei der Gestaltung ihrer Feste zu helfen. Feiern ist schön – wenn nicht alle gesund und fröhlich mitfeiern können, bitter.
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1 http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-07/inzest-migranten-ehe

Ein passabler Artikel, auch wenn der Autor „Inzest“ schreibt, aber „Inzucht“ gemeint ist. Manche Journalisten sind leider nicht in der Lage nachzuschauen, weil sie glauben, sie wüssten schon, was das Wort bedeutet. Ein häufiger Fehler.

2 http://www.zeit.de/online/2007/12/verwandtenehe

Weitere Infos/Lesenswertes dazu:

http://www.zeit.de/2015/17/iran-tradition-junge-generation

http://www.thehindu.com/seta/2004/04/29/stories/2004042900161600.htm

Bei der ersten Cousinenheirat „nur“ Verdoppelung des Risikos. Bei Verwandtenehen über mehrere Generationen wesentlich höher, dazu sind aber Stammbaumanalysen notwendig:

http://www.genetics.edu.au/Publications-and-Resources/Genetics-Fact-Sheets/FactSheet16

 

Bilder: http://uncyclopedia.wikia.com/wiki/Amish

http://www.castlerockpediatrics.com/