Ein Debattenbeitrag, zuerst auf fb 23.01.2015
Identitätsfindung kann ein schwieriger Prozess sein. Insbesondere in freien Gesellschaften, in denen es dem Individuum letztlich selbst überlassen ist, wer und wie er sein möchte im Rahmen der Gesetze, kann das ein lebenslanger Vorgang sein. Rollen werden kaum noch vorgegeben und der Platz in der Gesellschaft ist auch nicht vorherbestimmt, auch wenn es Wahrscheinlichkeiten und Weichenstellungen gibt.
In muslimischen Familien ist das oft noch anders: Es gibt eine Männerrolle, es gibt eine Frauenrolle. Bei beiden Vorgaben ist auch Unterwerfung ein Punkt: Bei Jungen unter den älteren, stärkeren Mann, bei Frauen unter Männer und ein oft von der Familie vorausgesetztes Ehrgefühl, das an ihre Sexualität geknüpft ist. Sexuell restriktiv ist es zwar bei beiden Geschlechtern, doch vornehmlich bei der Frau wird die Einhaltung durchgesetzt.
In der Beobachtung von Altersgenossen, die in dem Alter ihre Sexualität entdecken dürfen, stellen Jugendliche aus traditionellen muslimischen Familien fest, dass sie eingeschränkt sind: Der Umgang mit dem anderen Geschlecht wird als etwas Unschickliches angesehen, das bei Jungen mit Argwohn, bei Mädchen mit strikten Verboten belegt ist. Man trifft sich also vornehmlich mit Altersgenossen des eigenen Geschlechts. Da dies der natürlichen Neigung nicht nur in diesem Alter widerspricht, kommt dies einem Verzicht gleich. Verzicht und Entsagung sind unangenehme Empfindungen, die einen Gegenpol haben müssen, um in der Summe subjektiv positiv bewertet zu bleiben. Dieser Gegenpol kann sein, dass man das Verhalten der anderen abwertet und das eigene überhöht, sich also durch den Verzicht als besserer, „reinerer“ Mensch fühlt. Das ist etwas, was Religion suggeriert und auch von manchen Familien so positiv verstärkt wird.
Da diese Linie im Grunde nur noch – Ausnahmen gibt es – von muslimischen Familien so gehalten wird, eint muslimische Jugendliche das Leid im Verzicht, der gemeinsam überhöht werden kann: Man weiß, wovon man spricht. Um das zu ändern, wären auch die Familien gefordert, Rollenvorgaben und ihre Durchsetzung zu hinterfragen. Das ist jedoch oft noch nicht der Fall.
Flankiert wird diese gesonderte Eigenwahrnehmung wegen dieser Einschränkungen durch die vermehrte Fokussierung der Umwelt auf genau die Religionszugehörigkeit ; vielleicht verbindet noch die Ethnie und auch nachfolgend so manche Diskriminierungserfahrung. Es gäbe aber so viele andere Punkte und Eigenschaften, an denen man die Identität eines jungen Menschen festmachen könnte und so viele Merkmale, an denen man sie ansprechen kann. Menschen aus Kulturkreisen, in denen „man“ meist muslimischen Glaubens ist, sind auch nicht immer einverstanden, wenn man sie als Muslime wahrnimmt und anspricht. Genau dies geschieht jedoch zur Zeit wieder vermehrt. Andere entwickeln daraus auch ohne stärkere Außeneinwirkung einen übermäßig starken Anteil ihrer Identität. Durch einen kollektiven Ansatz und – bei genügender Segregation – entsprechender sozialer Kontrolle kann das eine Eigendynamik entwickeln. Man ist zunächst Muslim und danach kommen die anderen Identitätsaspekte. Das übergreift dann Ethnien und soziale Schicht: Die Ummah formiert sich.
Letzteres wird durch die Gesellschaft unterstützt, indem sie religiösen Vorstellungen und Wünschen oft der Eltern auch in im Grunde religionsneutralen gesellschaftlichen Bereichen entgegenkommt und Kinder verschiedener Herkunft unter dem primär religiösen Identitätsaspekt fasst. Ist es wirklich sinnvoll, allen möglichen, nicht medizinisch, sondern nur rituell begründeten Essenswünschen Einzelner zu folgen? Ist es wirklich sinnvoll, die Schule nicht als religionsneutralen Ort anzubieten, an dem eine gemeinsame Ethik im Unterricht nicht nur entwickelt, sondern auch gelebt werden kann?
In dem Spannungsfeld sexueller Frustration und gesonderter Eigenwahrnehmung entwickeln Ideen, die dies aufgreifen, zusammen mit oft vorhandenen antiwestlichen Ressentiments eine eigene Kraft. Die Ummah formiert sich auch als weltanschaulich-politisches Gegenmodell, als Gegenbewegung, die nicht mal mehr gesteigerter Religiosität bedarf.
Vielleicht sind diese Aspekte bislang nicht ausreichend diskutiert worden. Zusammen mit vielen weiteren Gesichtspunkten mögen sie auf der Suche nach der Erklärung, warum sich nicht wenige, zu viele, muslimische Jugendliche abkehren nützlich sein.
Genau die Islamisten greifen dieses „Ummah-Gefühl“ auf und unterfüttern es mit Ideologie.
Was tun bei oft autoritär erzogenen Jugendlichen, die Freiheit für Wertelosigkeit halten und oft einen vorgegeben Sinn wollen? Vielleicht hilft klarere Wertevermittlung als Gegenansatz. Weniger Kulturrelativismus und mehr Universalismus.
Wir sollten dem also Bürgersinn, Bekenntnis zur freien Gesellschaft und die vielen schönen Dinge wie Bildung, die man in diesem Leben entdecken kann, entgegensetzen. Als Werte die Menschenrechte, als Sinn, ein gutes Leben zu führen, zum eigenen Nutzen und dem des Nachbarn. Das sind positive Erfahrungen, an denen jeder teilnehmen kann, wenn er will. Die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass er das kann, wenn er will. Das stiftet Identität, Wir-Gefühl und Sinn. Einen Sinn, der auf die eigene Zukunft im Diesseits gerichtet ist, nicht im Jenseits.