Der ICC-Chefankläger und die Ahmadiyya-Gemeinde

Wegen der von ihm beantragten Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu sowie dessen Verteidigungsminister Yoav Gallant ist der ICC-Chefankläger Karim Ahmad Khan seit Tagen in den Schlagzeilen. Dabei werden Khans enge Bezüge zur Ahmadiyya-Gemeinde, die über die eines einfachen Mitglieds weit hinausgehen, aber konsequent ausgeblendet. Welche Haltungen vertritt die einem Kalifen unterstehende islamische Splittergruppe gegenüber Juden und Israel?

Karim Ahmad Khan bei einer Ahmadiyya-Veranstaltung 2018 (Beweisbild: Facebook-Seite der Pan-African Ahmadiyya Muslim Association UK)

Karim Ahmad Khan, seit Juni 2021 Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC), hatte vor einer Woche Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu sowie den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant und drei Anführer der Hamas beantragt. Insbesondere die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle deuten darauf hin, dass Khan damit versuchte, den Staat Israel, der über eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit verfügt, und die Terror-Organisation Hamas im gleichen Atemzug zu nennen.

Aufgrund des sogenannten Grundsatzes der Komplementarität darf der ICC mögliche Taten nur dann verfolgen, wenn eine nationale Strafverfolgung nicht möglich oder staatlich nicht gewollt ist. Damit sich Khan davon überzeugen kann, dass die israelischen Strafverfolgungsbehörden sehr wohl Hinweisen auf mögliche Kriegsverbrechen nachgehen, war im Mai ein entsprechender Termin in Israel anberaumt. Dem aber entzogen sich Khan und seine Mitarbeiter laut des US-Außenministeriums, indem sie nicht an Bord des Fluges nach Tel Aviv gegangen sind. Stattdessen verkündete Khan der Presse seinen Antrag auf die Haftbefehle.

Damit ist die derzeitige Empörung über ihn nicht weiter verwunderlich. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass sich kaum ein Medienbericht mit seiner Person und seinen möglichen Motiven beschäftigt. Zumeist wird geschrieben, dass es sich bei dem in Edinburgh (Schottland) geborenen 54-Jährigen um einen britischen Juristen und Sohn eines pakistanischen Einwanderers handelt. Das trifft auch zu, unterschlägt aber, dass seine juristische Karriere auch damit begann, islamisches Recht zu unterrichten. Noch weniger beleuchtet werden Khans Bezüge zur auch als „Ahmadiyya-Gemeinde“ bezeichneten Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ). Könnten Khans Motive mit dieser Zugehörigkeit zusammenhängen und wie würden die derzeitigen Handlungen in eine Strategie passen?

Primat des Kalifats und antiwestliche Tendenzen

Bei der AMJ handelt es sich um eine ursprünglich aus Pakistan stammende islamische Splittergruppe, die einem in London lebenden Kalifen untersteht. Die häufig vorgebrachte Darstellung, der Kalif sei ein rein spirituelles Oberhaupt, erscheint jedoch dem gegenwärtigen Minderheitenstatus und einer günstigen öffentlichen Wahrnehmung geschuldet. Dass das prinzipiell so ist, ist wenig überzeugend, wenn bei einem einem wichtigen Gelöbnis (im Video ab 1:04:45) „bei Allah“ geschworen wird, man werde sich bis zum letzten Atemzug dafür einsetzen, den Islam bis in den letzten Winkel der Erde zu tragen. Den Anhängern wird aufgetragen, jedes nur erdenkliche Opfer zu erbringen, damit die „gesegnete Flagge des Islams“ in jeder Nation hochgezogen wird. Die Anhänger schwören, bis zum letzten Atemzug das Ahmadiyya-Kalifat zu verteidigen und auch ihre Nachkommenschaft so fest an das Kalifat zu binden, dass dieses „bis zum Ende der Zeit“ geschützt ist. Sie geloben, den Islam zu verbreiten, „bis die Flagge des Propheten Mohammed weit höher hängt als jede andere Flagge“. Bei der Ahmadiyya gibt es eigene Flaggenzeremonien bei großen Zusammenkünften.

In einer Botschaft des Kalifen an die Jugendorganisation vom Oktober 23 wird auf eine Vision des Gründers verwiesen, die unter Ahmadis eine hohe Glaubwürdigkeit hat und oft als eine Art Wahrtraum gilt: „In this vision lay a remarkable prophecy whereby Allah the Almighty gave the glad tidings to the Promised Messiah(as) that a day was destined to come when heads of state, be they monarchs, presidents, or otherwise, in countries such as the United States, United Kingdom, Russia and Germany would come to accept the truth of Ahmadiyyat. Indeed, according to the promises of Allah, a time will come when Ahmadiyyat will be accepted in such vast numbers that all other religions will be rendered insignificant in comparison.“

Diese Aussage verdeutlicht noch einmal den nicht nur religiösen Anspruch. Denn sonst hieße es etwa, dass andere religiöse Oberhäupter anerkennen würden, dass ihr Glaube falsch ist, dass also nur Allah der tatsächlich einzige Gott ist, der Anbetung verdient, auf jeden Fall aber größer ist als zum Beispiel Jahwe oder Shiva. Es sind die weltlichen Staatsoberhäupter, die genannt werden. Bemerkenswerterweise sind überwiegend nur westliche Staaten als Beispiele genannt, nicht jedoch Staaten unter muslimischer Dominanz.

Die wichtigste Moschee der Ahmadiyya in London, sozusagen die Kalifen-Moschee, heißt Bait ul-Futuh-Moschee, was übersetzt „Haus der Siege“ bedeutet. Die Moschee soll die zweitgrößte in Westeuropa sein. Die Wahrheit des Kalifats anerkennen heißt, sich ihm zu unterwerfen als weltliches, als vor allem westliches Staatsoberhaupt. Diese Anerkennung heißt Überordnung des Islams. Es sind zwar verschiedene Staatsformen denkbar, aber nur unter dem Islam als normstiftende Kraft und in seinen Grenzen. Diese Normen bestimmt der Kalif, er legt sie aus und zieht auch die Grenzen des Erlaubten.

Absolutheitsanspruch der Bewegung

Welches Maß an Unfreiheit und Abhängigkeit angestrebt wird, zeigt sich schon heute in der Führung der Anhänger. Ein Anspruch auf Gehorsam und Kontrolle erschöpft sich nicht nur in öffentlichen Gelöbnissen. Die Unterordnung der Anhänger unter das Wort des Kalifen erscheint stark ausgeprägt, denn die Unterorganisationen und ihre Verantwortlichen wirken ehrerbietig bis zur Unterwürfigkeit, erstatten Berichte und bitten um Erlaubnisse. Mindestens bei jenen, die sich der Gemeinschaft besonders verpflichtet haben, geht diese Unterordnung bis in persönliche Belange oder berufliche Entscheidungen und professionelle Einschätzungen. Manche Anhänger überantworten schon ihre ungeborenen Kinder dem Dienst für die Gemeinschaft, was deren eigene Entscheidung über ihren Lebensweg stark einschränken kann.

In Deutschland fiel die Ahmadiyya-Gemeinde in den letzten Jahren mehrfach in der Öffentlichkeit auf und versucht diese auch durch intensive Öffentlichkeitsarbeit zu beeinflussen. Plakative Aktionen, die Gesetzestreue und nachbarliches Wohlverhalten transportieren sollen, führten aber auch zu unfreiwilligen Nebeneffekten wie etwa Kritik am Verteilen frauenfeindlicher Broschüren. Die unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen wird aber von der Gruppierung als göttlicher Wille und geradezu natürliche Ordnung umgedeutet. In der Gemeinschaft wird strikte Geschlechtertrennung praktiziert. Es gibt auch in Deutschland Personen, die für das Arrangieren von Ehen verantwortlich sind (ab 07:37). Sie erstatten Bericht und sollen etwa trotz der Wünsche der jungen Frauen nach wenigstens gleich gebildeten Männern auch die weniger gebildeten Ahmadis aus dem Stammland an die hier aufgewachsene Frau bringen.

Israelfeindlichkeit der AMJ

Die Israel- und Judenfeindlichkeit der Gruppierung tritt in verschiedenen Stellungnahmen und Veröffentlichungen zu Tage. Die Frage des „Palästina-Konflikts“ etwa soll sich dadurch auflösen, wenn andere Muslime und auch die Juden Ahmadis werden. In einer älteren Ausarbeitung zu „Ahmadis and the state of Israel“ heißt es: „The Ahmadis believe that it would be difficult to resolve the problem of Palestine satisfactorily in the end without converting all the Jews to Islam.“ Man kann Juden auch dezimieren, indem man sie dazu bestimmt, damit aufzuhören, Juden zu sein. Dann würde auch Israel nicht mehr benötigt, denn alles wäre unter der Flagge des Islams geeint.

In verschiedenen Stellungnahmen nicht erst nach dem 7. Oktober hat der Kalif immer wieder die angeblichen Grausamkeiten, die durch Israel begangen würden, angeprangert, während die Handlungen der Hamas – wenn sie überhaupt erwähnt werden – zwar verurteilt, in der Gesamtschau doch relativ milde und als Reaktion beurteilt werden. In einer Ansprache vom 23. Oktober, die seitens der Bewegung auch auf Deutsch vorliegt, heißt es: „Die Welt sagt, und bestimmte Beweise zeigen auch, dass die Hamas diesen Krieg begonnen hat und schuldig ist, wahllos israelische Zivilisten getötet zu haben. Trotz der Tatsache, dass die israelische Armee bereits davor viele unschuldige Palästinenser auf selbe Weise getötet hat, müssen die Muslime dennoch gemäß den Lehren des Islam handeln.“

In einem Kurzvideo auf YouTube etwa Israel vorgeworfen, Gefangene überwiegend ohne Anklage festzuhalten. In dem kurzen Film vom 1. Dezember ist allerdings auch Israa Jaabis zu sehen. Jaabis war wegen eines Terroranschlags, bei dem sie sich auch selbst verletzte, verurteilt worden. In einem Videoausschnitt vom 6. Januar spricht der Kalif von den „kranken Absichten“ Israels, ohne jedoch die fortwährenden Attacken und die anhaltende Geiselnahme der Hamas zu erwähnen. Diese einseitigen Schuldzuweisungen sind deutlich geeignet, Israel und Juden als böse Macht darzustellen und die eigenen Anhänger gegen Israel und die Juden einzunehmen. Häufige Vokabeln in dem Kontext sind auch „Ungerechtigkeit“ und „Waffenstillstand“, so als ließe die Hamas bei mehr Waffengleichheit plötzlich mit sich reden und würden die Geiseln bei einer einfachen Waffenruhe freigelassen. Die von der Hamas festgehaltenen Geiseln finden kaum Erwähnung. Auch die „Einheit der islamischen Führer“, die der Kalif häufig herbeiwünscht, soll nur vordergründig dem Frieden dienen. Denn das Ergebnis wäre nur die noch schnellere Vernichtung Israels als Staatsgebilde.

Dass sich mancher wünscht, Israel wäre erst gar nicht als Staat gebildet worden, ist eine Sache. In der einen oder anderen Weise seinen Untergang zu wünschen oder gar zu befördern, eine andere. „Der Rechtswahrer Khan, der seinen bevorstehenden Antrag zur Festnahme von israelischen Politikern und palästinensischen Terroristen medienwirksam gegenüber der Moderatorin Christiane Amanpour auf CNN verkündete, wird immer eine juristische Begründung für seinen Feldzug gegen Israel finden. Das Ziel ist klar: Der jüdische Staat soll international isoliert werden. Ihm soll die Lebensgrundlage entzogen werden wie einst dem Apartheidregime in Südafrika“, schrieb Rafael Seligmann im Cicero dazu

Kann ein Unterschied gemacht werden zwischen dem, was jetzt möglicherweise der ICC verfolgt und dem, wie die AMJ Israel sieht? Können die Motive dort gesucht werden?

Dass beide Elternteile Khans als hochrangige AMJ-Funktionäre aktiv waren und seine Familie im Londoner Umfeld des Kalifen als „sehr glaubensstreng“ geschätzt wurde, kann ihm nicht angelastet werden. Eine Distanzierung von diesem fundamentalistischen Umfeld ist bei Karim Ahmad Khan allerdings bis heute nicht zu erblicken, ganz im Gegenteil: Er war in der Bewegung aktiv und heiratete 1993 Yasmin Rehman Mona, eine Tochter des später verstorbenen Ahmadiyya-Kalifen Mirza Tahir Ahmad. Da arrangierte Ehen zur Kultur der Ahmadiyya gehören und Fotos und Beschreibungen in Publikationen darauf deuten, dass Khans Familie sowie die des Kalifen eng verbunden waren, spricht nichts dafür, dass es sich dabei um eine zufällige Liebesheirat gehandelt hat.

Zu seinem Werdegang passt auch, dass der heutige ICC-Chefankläger den 1985 verstorbenen pakistanischen Politiker Muhammad Zafrullah Khan als seinen „wichtigsten Mentor“ bezeichnet hat, als seinen „Adoptiv-Großvater“. Muhammad Zafrullah Khan war der erste pakistanische Außenminister und ebenfalls in der Ahmadiyya-Gemeinde organisiert. Dort war er als Autor mehrerer Bücher eine wichtige geistige Größe der Gemeinde. Und auch Muhammad Zafrullah Khan entdeckte als Vizepräsident und von 1970 bis 1973 als Präsident des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag die Möglichkeiten des internationalen Rechts. Er trat viele Jahre als Verfechter der „palästinensischen Sache“ auf und hatte zuvor bei den Vereinigten Nationen Reden gegen die Errichtung des Staates Israel gehalten.

Karim Ahmad Khans gegenwärtige Handlungen fügten sich also in die langjährige Haltung der AMJ und könnten als moderne Option der Umsetzung und Einflussnahme betrachtet werden, wenn man die Haltung Zafrullah Khans teilt.

Geheimniskrämerei um Ehe mit Kalifen-Tochter

Im englischsprachigen Internet wird gelegentlich darauf verwiesen, dass Karim Ahmad Khan später auch noch eine malaysische Anwältin geheiratet hat. Die spärliche Information suggeriert, dass er sich zuvor von der Kalifen-Tochter getrennt hätte. Bislang ist aber keine solche Scheidung belegt. Da Ahmadiyya-Männer bis zu vier Frauen haben dürfen, kann es ebenso gut sein, dass es sich bei der malaysischen Juristin um eine Zweitfrau handelt.

Gegen eine Scheidung spricht auch, dass Khan nach der Trennung von einer Kalifen-Tochter kaum noch das Vorbild für Ahmadiyya-Mitglieder wäre, als das er in der Gemeinde bis heute gesehen wird. Scheidungen sind möglich, werden aber nicht gerne gesehen. Zuletzt trat er 2018 offiziell auf einer AMJ-Veranstaltung auf. Danach hielt er dem Anschein nach zumindest äußerlich Distanz zu der Gruppierung. Was diese aber nicht davon abhielt, die Ernennung „ihres“ Mannes zum ICC-Chefankläger 2021 in ihren Medien entsprechend zu feiern.

Besonders auffällig ist, dass Khans multiple Bezüge zur Ahmadiyya-Gemeinde wie auch seine familiären und ehelichen Verhältnisse, die nicht isoliert von diesen Bezügen betrachtet werden können, selbst im britischen Internet – wenn überhaupt – immer nur am Rande erwähnt werden. Für eine Person, die sich erfolgreich um ein so wichtiges Amt beworben hat und jetzt faktisch in die Geschichte des Nahen Ostens einzugreifen versucht, ist das ein extrem ungewöhnlicher Mangel an öffentlichem Interesse und Information. Offenbar war und ist es in Großbritannien nicht erwünscht, dass dieser Teil seiner Persönlichkeit vom Rest der Welt zur Kenntnis genommen wird.