Anmerkungen zum NRW-Verfassungsschutzbericht

Mitte April wurde der Verfassungsschutzbericht NRW für das Jahr 2022 veröffentlicht. Neben interessanten Entwicklungen im Bereich der Anhängerzahlen islamistischer Strömungen gab es darin auch einige durchaus befremdliche Darstellungen. Besonders die eher euphemistische Sicht auf den Zentralrat der Muslime irritiert. Am unverständlichsten sind jedoch einige Darstellungen zum islamistischen Antisemitismus, die in Teilen als Relativierung gedeutet werden können.

Landesinnenminister Herbert Reul (Bild: Sigrid Herrmann)

Am 13. April stellte Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) in Düsseldorf den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 vor. Darin wird bei den Islamisten bei einigen Strömungen ein dezenter Rückgang der – beobachteten – Anhängerzahlen berichtet. Neben den Salafisten betrifft das die Unterstützer des Kalifatsstaats und der Hamas sowie der Muslimbruderschaft und der Türkischen Hizbullah. Gleich geblieben sind die Anhängerzahlen der Furkan-Gemeinschaft, der Hizbollah und dem extremistischen Teil der Milli-Görüs-Bewegung. Einen Anstieg vermeldet der NRW-Verfassungsschutz bei den Unterstützern der verbotenen Hizb ut-Tahrir.

Der Rückgang der beobachteten Salafisten von 3.200 auf 2.800 wird sowohl auf Rückgänge beim politischen wie auch beim gewaltbereiten Salafismus zurückgeführt. Ob das nun allerdings vornehmlich der temporären Schwächung des Islamischen Staats zuzuschreiben ist, also einer Schwächung des Zulaufs, oder auch durch eine Umgewichtung verfassungsschutzeigener Ressourcen, also einer Schwächung der Beobachtungsintensität, zuzuschreiben ist, geht aus dem Bericht nicht hervor. Hinsichtlich der Strategie wird auf das Wiederaufleben der – auch öffentlich sichtbaren – Missionstätigkeit (Dawa) verwiesen. Im Jahr 2022 wurde in Dortmund der Islamische Kulturverein Nuralislam als „extremistisch-jihadistisches Propagandazentrum“ verboten. Unter den salafistischen Organisationen wird insbesondere die angebliche Hilfsorganisation Blue Springs herausgestellt.

Muslimbruderschaft: Verengung auf die DMG?

Zur Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) heißt es im Bericht: „Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE), heute Council of European Muslims (CEM), die als Sammelbecken für Organisationen der Muslimbruderschaft in Europa gilt.“ Das trifft soweit zu. Warum das in Nordrhein-Westfalen ansässige Mitglied des CEM aber nicht benannt wird, bleibt unklar. Mit dem Islamischen Frauenverband für Bildung und Erziehung in Deutschland e.V. (IFBED) mit Sitz in Frechen sitzt nach dem Kölner Vereinsregister nämlich eine Mitgliedsorganisation im Kölner Raum. Die Vorsitzende des IFBED, die in Syrien promovierte Frauenärztin Samar Hababa, ist zugleich auch formell das höchstrangige deutsche Vorstandsmitglied von Islamic Relief Deutschland.

Hinsichtlich der Einschätzung der verschiedenen in Deutschland auffälligen Landsmannschaften der Muslimbruderschaft wird behauptet: „Bis heute nimmt die ägyptische Muslimbruderschaft gegenüber allen anderen regionalen Zweigen eine führende Rolle ein.“ Das ist eine alte Einschätzung, die den aktuellen Gegebenheiten in Deutschland kaum Rechnung trägt. In Deutschland ist hinsichtlich des Erfolgs bei politischen Ansprechpartnern klar der syrische Zweig am einflussreichsten. Auch wenn nordafrikanische, palästinensische und deutsche Muslimbruder-Funktionäre ihre Art der Entgrenzung und Einflussnahme ausbauen, so liegen doch Syrischstämmige klar vorne. Der Zentralrat der Muslime (ZMD) ist diesbezüglich syrisch dominiert und auch der Präsident des CEM weist diese Herkunft auf.

Die Fokussierung des Verfassungsschutzes auf die DMG führt auch nicht weiter in der folgenden Frage. „In Nordrhein-Westfalen ist das Ziel der hiesigen Vertreter der Muslimbruderschaft zunächst, die Bestrebungen der Organisation in den islamisch geprägten Ländern zu unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, geht die Muslimbruderschaft entsprechend moderat vor. Erkenntnisse über das organisierte Zusammenwirken öffentlicher und nicht öffentlicher Muslimbruderschaft-naher Strukturen zeigen zudem, dass die Muslimbruderschaft in Nordrhein-Westfalen vor allem durch die DMG repräsentiert wird“, heißt es an einer Stelle. Auch die DMG steht derzeit unter der Leitung eines Syrischstämmigen und die ganzen Muslimbruderschaft-nahen Strukturen, gemeint sind die Einzelvereine, im ZMD haben durch den Dachverband durchaus Einfluss im Inland.

Verharmlosung von MB-Aktivitäten in Deutschland?

Dass die „hiesigen Vertreter der Muslimbruderschaft“ von Deutschland aus zunächst deren Bestrebungen „in islamisch geprägten Ländern“ zu unterstützen versuchen, wie im Bericht behauptet, ist eine gewagte Darstellung. Wäre dem so, würden nicht seit vielen Jahren massenhaft deutsche Muslimbruder-Vereine gegründet. Die Darstellung verschleiert, dass viele Vereine den Weg zur Erlangung öffentlicher Mittel suchen, indem sie ihre Zugehörigkeit nicht offen propagieren. Da die Muslimbruderschaft in Deutschland nicht verboten ist, unterliegen die Vereine nämlich keinen relevanten Repressionen, würden sie sich offen zu ihr bekennen und Deutschland nur als Rückzugsraum nutzen. Das kann man für die syrische Muslimbruderschaft bis in die 80er-Jahre noch gelten lassen. Für die ägyptische ist dies seit den 60er-Jahren jedoch kaum zutreffend.

Hinzu kommt: Würde die Muslimbruderschaft keine Binnenwirkung entfalten, wäre sogar die Beobachtung durch den Verfassungsschutz manchesmal fraglich. Nicht immer liegen ja nachweislich konkrete Aktivitäten gegen die Völkerverständigung vor. Bestrebungen gegen die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung (FDGO) hingegen sind oft Grundlage der Beobachtung so mancher islamistischen Organisation. Die Darstellung, die deutschen Vertreter der Muslimbruderschaft wirken vornehmlich in ihre Herkunftsländer, widerspricht auch anderen Stellen im Bericht.

So heißt es an anderer Stelle zur Erläuterung des wohlklingenden Begriffs des religiös-praktischen „Mittelwegs“: „Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sich auch dieser ,Mittelweg‘ eindeutig am klassischen Konzept von Scharia orientiert, damit Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufweist und somit selbst als extremistisch zu bewerten ist. Die Muslimbruderschaft fühlt sich nach wie vor einem ganzheitlichen Religionsverständnis verpflichtet. Demzufolge sollte der Glaube alle Lebensbereiche regeln, wozu auch die politische und gesellschaftliche Ordnung zählen.“ Unter den konkret benannten Organisationen aus dem Muslimbruder-Spektrum sind wieder der Hamas-nahe Verein „Die barmherzigen Hände“ und die Münsteraner Arrahman-Moschee.

Freundlich gegenüber dem ZMD

Der ZMD wird im Bericht eher freundlich erwähnt. So wird explizit auf die Trennung von der DMG verwiesen. „Im Januar 2022 wurde die DMG aus dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) ausgeschlossen. Im Rahmen der Vorstandswahlen des ZMD im September 2022 schieden zudem Personen mit Bezügen zur Muslimbruderschaft aus dem Vorstand aus. Diese Maßnahmen trugen dazu bei, die Einflussmöglichkeiten der DMG zu reduzieren.“ Verschwunden sind diese allerdings nicht, wie auch im Bericht eingeräumt wird: „Wenngleich nach wie vor davon ausgegangen werden muss, dass die DMG über Einzelpersonen und mit ihr verbundene Organisationen weiterhin mittelbar im ZMD mitwirken kann, hat sie durch ihren Ausschluss aus dem Dachverband dennoch eine spürbare Schwächung ihrer Einflussmöglichkeiten hinnehmen müssen.“

Weitere problematische Umstellungen, wie die Einbindung ehemaliger Funktionäre des seinerzeit unter Beobachtung stehenden Deutsch-Islamischer Vereinsverbandes (DIV) bleiben ebenso unerwähnt wie die Benennung des ZMD-Landesvorsitzenden Samir Bouaissa, dessen Wuppertaler Einrichtung in diesem Kontext mehr als fragwürdig ist. Dass die mit der Neuwahl verbundene Vorstandsumstellung des ZMD nach wie vor die prominente Einbindung der ATIB nachweist, wird ebenfalls verschwiegen. So bleibt die Generalsekretärin der ATIB, Özlem Basöz, die nunmehr die Stellvertreterin Aiman Mazyeks ist, ebenfalls im vornehmen Dunkel des Nichterwähnten. Und das, obwohl ihr Verband wieder im Abschnitt „Auslandsbezogener Extremismus“ als extremistische Organisation geführt wird. Dahinter scheint der offensichtliche Versuch zu stehen, den ZMD besser aussehen zu lassen, als er ist.

Und möglicherweise auch der, die Partei von Landesinnenminister Herbert Reul vor kritischen Nachfragen zu beschützen. Denn Özlem Basöz wie auch Samir Bouaissa sind CDU-Mitglieder und damit Parteifreunde von Herbert Reul. In Nordrhein-Westfalen ist der Verfassungsschutz keine eigenständige Behörde, sondern eine Abteilung des derzeit von Reul geführten Innenministeriums. Dazu passt auch, dass sich Herbert Reul erst vor wenigen Wochen in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage nicht konkret äußern wollte, ob die Einrichtung von Samir Bouaissa, die Wuppertaler Abu-Bakr-Moschee, nun vom Verfassungsschutz beobachtet wird oder nicht.

Irritierende Darstellung zum islamistischen Antisemitismus

Im Kapitel zu dem erstarkenden Antisemitismus wird neben den sicher begründeten Hinweisen auf rechts und links motivierte judenfeindliche Haltungen auch der islamistische Antisemitismus erwähnt. Dort irritiert jedoch ein Absatz, der durch seine historisch fragwürdige Einordnung fast schon als Relativierung wirkt und den islamistischen Antisemitismus zu verniedlichen scheint: „Judenfeindliche Einstellungen waren historisch gesehen in der islamischen Welt deutlich schwächer ausgeprägt als in Europa, wo der Antijudaismus immer wieder zu Verfolgungen und Pogromen geführt hatte, vor denen Jüdinnen und Juden unter anderem im Osmanischen Reich Zuflucht suchten. Der Beginn des Nahostkonflikts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte jedoch in vielen arabisch Ländern zu einer immer kritischeren Sicht auf das Judentum, die nach der Gründung Israels zum Teil in offene Feindschaft umschlug. Anfangs stand dabei eher eine panarabische Argumentation im Vordergrund, wobei auch Vorstellungen und Narrative des europäischen Antisemitismus übernommen wurden. Mit dem Erstarken des Islamismus erfolgte aber eine zunehmende religiöse Prägung der antiisraelischen Rhetorik, die versucht, diesen auch aus den islamischen Quellen und der Geschichte des Islam zu begründen. Im Unterschied zum modernen europäischen Antisemitismus, der stark durch rassistisches Denken geprägt ist, lassen sich unter Islamisten aber kaum biologistische Argumentationsmuster finden.“

Aber auch im Osmanischen Reich kam es zu Verfolgungen und den Muslimen rechtlich gleichgestellt waren Juden auch lange Zeit nicht. Die bestenfalls ambivalente Geschichte jüdischen Lebens im Osmanischen Reich ist jedoch wenig relevant, wenn es um heute vorliegende antijüdische Haltungen und unter hier lebenden Muslimen geht. Der heutige Judenhass ist nicht durch solche Geschichten anzugehen; die einzige Funktion in einem Verfassungsschutzbericht, der ja keine historische Abhandlung sein soll, kann demzufolge nur sein, den Islamismus allgemein von Judenfeindlichkeit freizusprechen, islamische Judenfeindlichkeit mehr als das Produkt westlichen Ideologie-Imports umzudeuten. Verdeckt wird dadurch auch, dass Juden in diesem Teil der Geschichte traditionell kopfsteuerpflichtige Bürger zweiter Klasse waren. Man könnte in der weiteren Herleitung auch erblicken, dass die Juden durch die Gründung des Staates Israel in gewisser Weise selbst schuld sind an der Feindschaft, die ihnen entgegengebracht wird. Diese Sichtweise aber liegt gefährlich nahe an der hauptsächlich bei Antisemiten verbreiteten Darstellung, nach der die Juden am Antisemitismus selbst schuld seien.

Auch der Hinweis, es gebe wenig „biologistische Muster“, führt etwas in die Irre. Auch wenn ähnliche Ethnien den unterschiedlichem Glaubensrichtungen anhängen, so bezeichnen islamistische Antisemiten Juden gerne als „Affen und Schweine“, als Untermenschen also. Ob das nun biologistisch ist oder nicht, ist da eher spitzfindig, die bildliche Darstellung von Juden in vielen islamischen Ländern spricht dagegen. Der Abschnitt widerspricht im Übrigen auch den kurz zuvor geschriebenen Ausführungen des Verfassungsschutzes zu dem Antisemitismus aus dem Graue-Wölfe-Spektrum. Dort wird noch – zutreffend – ausgeführt, dieser leite sich aus Überlegenheitsvorstellungen und einer Bezugnahme auf das Osmanische Reich ab: „Die Anhänger der Ülkücü-Bewegung setzen das in ihrer Ideologie verwurzelte turanistische Weltbild um, indem sie die politische und geschichtliche Bedeutung des Osmanischen Reiches zur Grundlage der Überlegenheit der türkischen Nation stilisieren. Ziel ist die Vereinigung aller Turkvölker in einem Staat in den Grenzen des ehemaligen Osmanischen Reiches. Die mit dieser Zielvorstellung einhergehende Überhöhung der türkischen Ethnie führt gleichzeitig zu einer Herabwürdigung anderer Volksgruppen und politischer Gegner. Zu diesen erklärten Gegnern gehören auch Jüdinnen und Juden.“

Fazit: Beruhigen kann der Bericht also auch trotz im Phänomenbereich leicht sinkender Zahlen nicht. Das ist nicht nur auf die weiterhin hohe abstrakte Gefahr durch islamistischen Terrorismus begründet, sondern auch dadurch, dass der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz bei den legalistischen Islamisten nicht konsistent agiert. So sorgt er bei den besonders bekannten Legalisten selber für einen blinden Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch darf es keinen CDU-Bonus für diesen Personenkreis geben, denn Fragen nach einer möglichen Verfassungsschutz-Beobachtung, der Kommunizierung derselben oder der Erwähnung in einem Jahresbericht, dürfen nicht vom Parteibuch der Beteiligten abhängig gemacht werden.